Samstag, 12. September 2009

Philippinische Gerechtigkeit

The Philippines according to Grandma: "Lola" von Brillante Mendoza - Venedig Blog, 14. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Manila, die Hauptstadt der Philippinen ist der Schauplatz. Es regnet permanent, ein starker Wind pfeift, und beides wird in diesem Film kaum je aufhören. Eine alte Frau geht mit einem kleinen Jungen durch die Stadt. Zuerst in eine Kirche. Dann, wieder draußen, versuchen sie eine Gedenkkerze anzuzünden. Im Wind und Regen ist das ein schweres Unterfangen. Jay-Jay, der kleine Junge, der den Schirm schützend gegen den Wind halten soll, stellt sich dabei nicht gerade geschickt an. Minutenlang dauert es, mit der Geduld eines Bresson präzise eingefangen von der Handkamera. Dieser Anfang schon zeigt die ganze Meisterschaft des Regisseurs Brillante Mendoza. Die Kamera zittert selbst leicht, macht dadurch die Anstrengung, die Nervosität, die in dem an sich banalen Vorgang liegt, spürbar, und baut beiläufig jene Atmosphäre auf, die den Film prägt. Menschen in Not, Menschen die schwach sind, Anstrengung, die in jeder der langsamen und umständlichen Bewegungen der alten Frau enthalten ist, genau wie die Energie die diese Alte mit ihren vermutlich über 80 Jahren noch hat. Nichts passiert, werden manche sagen, alles passiert, erkennt man, wenn man hinguckt.

An den Mauern sieht man Graffiti, die man nicht lesen lann, man hört den Lärm der Großstadt im Hintergrund, man sieht Regen, spürt die Feuchtigkeit, die Kälte des Windes. Natürlich liegt ein großer Reiz der Filme Brillante Mendozas, nicht der einzige und auch nicht der wichtigste, darin, dass man in ihnen sehen kann, wie es eigentlich aussieht auf den Philippinen, ahnen kann, wie es sich vermutlich anfühlt, hier zu leben. Man glaubt Manila zu riechen, zu schmecken, man glaubt selbst dort zu sein.

Weiter bewegen sich die Alte und der Kleine in real time, die reale Langsamkeit ist, durch die Stadt. Nur wenige Filmminuten sind vergangen, und wir sind ganz drin. Sie nehmen einen öffentlichen Kleinbus. Wir hören, was die Leute im Bus so reden. Eine Frau spricht am Cellphone über ein bevorstehendes Job-Interview. Der Wagen fährt weiter. Plötzlich eine schnelle Bewegung, kaum begreift man, was geschieht, die Frau schreit, ein Mann stürzt aus dem Wagen, zwei, drei andere hinterher, "my bag, my bag" - ein Taschendieb hat ihr Tasche und Mobiltelefon entrissen. Vor zwei Jahren hat Mendoza mit "Tirador" (seinerzeit im Berlinale-Forum) die Welt der Taschendiebe dargestellt, jetzt zeigt er die andere Seite. Dass hier immer alles passieren kann, darauf hat er die Zuschauer hiermit auch vorbereitet.

Die Kamera drängt mit aus dem Bus, streift im Vorübergehen, wie die Alte den Kleinen schützend festhält, geht auf den Taschendieb, zeigt, wie Passanten ihn zusammenschlagen. Spontane Selbstjustiz der Straße. Angst in seinem Blick, Wut in den Augen der anderen. Dann geht es weiter, wir bleiben an der Seite der alten Frau.

Die Bedeutung dieser überaus clever eingebauten Episode, die keineswegs so beiläufig ist, wie sie scheint, zeigt sich erst später. Im Rückblick entpuppt sich alles als listige Reflexion von Gerechtigkeit, und als Verdoppelung des Ereignisses, das die Geschichte dieses Films überhaupt ausgelöst hat - wie wir aber erst gleich erfahren.

Jetzt sind die Alte und der Kleine bei einem Sarghändler. Eine andere Frau, die die Enkelin der Alten ist, und die Mutter von Jay-Jay, ist hinzu gekommen. Der Sarghändler führt die verschiedenen Modelle vor: Die Preise nehmen ab, die Sargmodelle sehen sich zum Verwechseln ähnlich. 14.000 Pesos, 12.000, 10.000, "Beerdigung inbegriffen" sagt der Händler, "das ist zu teuer für uns" sagt die Enkelin, man landet bei 8.000 Pesos, 117 Euro.

Die Alte geht, von der Kamera verfolgt, in einen anderen Raum. Dort liegt eine Leiche. Wer ist gestorben? Jetzt erfahren wir's: Ihr Enkel. Sie wischt sich eun paar Tränen vom Gesicht, holt ihren Urenkel ein, der auf die Straße gelaufen ist. Dann geht es zur Arbeitsstelle des Enkels, ein Sicherheitsunternehmen, "Condolences" sagt eine Frau, dann zur Polizei, immer noch im Regen, immer noch mit dem Urenkel an der Hand. Bei der Polizei erfährt man mehr über den Todesfall: "His Cellphone was snatched ... he was stabbed on the bridge...", der Mörder sei bereits gefunden. Als die Alte das Gebäude verläßt, kreuzt sich ihr Weg mit dem einer anderen alten Frau. Jetzt folgt die Kamera ihr, und bald begreifen wir: Die zweite Alte ist die Großmutter des Mörders.

"Lola", der Filmtitel heißt "Großmutter" auf Tagalong. Lola Sepa ist die Großmutter des Opfers, Lola Puring die des Täters. Jetzt hört der konsequente Realzeitansatz auf, obwohl Mendoza immer wieder zu ihm zurückkehrt, aber die Zeitsprünge werden größer. Man sieht die Familie, die Beerdigung wird geplant, Lola Sepa lehnt ein Trauerbuch ab - "we don't need that, we don't have enough visitors to sign that." -, und es fällt einem ein, dass es eigentlich immer um Familien geht in Mendozas Filmen. Trotz des Mordes herrscht unter den Familienangehörigen keine Trauer, sondern eher eine gewisse Heiterkeit. Die Alte hat weitere Behördengänge zu erledigen, und der Film zeigt, wie Menschen hier als Spielmaterial hin und hergeschoben werden.

Es kommt zum ersten Gerichtshearing. Beide Großmütter begegnen sich, die Kamera zeigt, wie Lola Sepa verzweifelt eine Toilette sucht, nicht findet, und verzweifelt im Gang steht, während Urin an ihren Beinen herunterrinnt. Lola Puring, die ihrem Enkel helfen will erhält den Rat: "My advice is to settle it amicable". Dieser Verzicht auf öffentliche Anklage im Fall einer Einigung der Familien ist in den Philippinen offenbar selbst bei Mord möglich, vermutlich, weil die Gefängnisse überfüllt sind, und die Regierung denkt, dass dann das Geld immerhin zu etwas gut ist, und dass der Täter der öffentlichen Kasse nicht zur Last fällt.

Im Folgenden parallelisiert der Film unter ständigen Perspektivwechseln die beiden Großmütter, beide aus der Armenschicht, sie haben mehr gemeinsam, als sie trennt. Das gilt besonders für den Alltag. Denn die alten Frauen werden nicht verklärt. Mendoza zeigt, wie Lola Puring ihre Kunden betrügt, wie auch hier wieder Korruption - DAS große Thema unter den Festivalfilmen - herrscht. Alle betrügen alle. Man versteht das auch. Denn Not kennt kein Gebot. So erklärt Lola Puring bei Verwandten, der Enkel sei im Hospital, sei durch Stichwunde verletzt. Sie will Geld erbetteln, bekommt aber nur Naturalien geschenkt: Zwei lebende Enten - eine herrliche Szene, diese Entenjagd mit den Händen in den Wiesen der Suburbs, kurze Idylle - Kartoffeln, Eier. Gegenüber der Familie geht es um Anstand, aber sobald man unter sich ist, geht es nur ums Geld. Noch am Bahnhof verkauft die Großmutter die Geschenke.

"Lola" zeigt so die Erosion der Family-Values, gerade dort, wo sie ein bisschen noch funktionieren. Etwa in der Gleichgültigkeit des Bruders des Angeklagten: "He deserved it". Der hätte den Bruder nie aus dem Knast geholt. Zugleich zeigt der Film noch, dass zumindest die Macht des Matriarchats und der Alten in diesen Familien noch funktioniert. Die alten Mütter entscheiden.

Am Ende, wie vorauszusehen, treffen sie sich, handeln einen Preis aus. Dabei reden die Alten über ihre Athritis. Man sollte wenig Kohl essen. Über Männer: "Men are really a pain in the neck". 50.000 Pesos war das Leben des Enkels wert. Umgerechnet 731 Euro. Ganz schön viel Geld für beide Alte, aber das Geld ist dann gleich auch schon wieder weg.

Ein großartiger Film aus dem Dickicht von Manila. "Lola" zeigt das System, zeigt Gerechtigkeit in den Philippinen, zeigt die Menschen in diesem sozialen Räderwerk. Und darum herum zeigt er viele kleine feine genaue Beobachtungen. Wie das amerikanische Filmteam im Zug, das das Elend aufnimmt. Nimmt "Slo-Mo" sagt der Regisseur...

Ein toller Film! Wenn es mit rechten Dingen zugeht, wird "Lola" dafür mit einem Hauptpreis in Venedig belohnt.

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