Donnerstag, 24. September 2009

Am Tag der Märtyrer

Foto: "City of Life And Death"
Schneeweißchen und Blutrot, Leben und Tod und König und Königin - San Sebastián-Blog, 6. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Manchmal tun sich auf Festivals die seltsamsten Koinzidenzen auf: Filme, die nichts miteinander zu tun haben, treffen aufeinander, korrespondieren, spiegeln oder ergänzen sich. Und es tun sich Zusammenhänge auf, die plötzlich, nach dem dritten oder vierten Film das schon Gesehene auch rückwirkend noch einmal wieder in anderem Licht erscheinen lassen.
So gab es in San Sebastián diesmal einen Tag der Märtyrer: Zunächst lief am Morgen "City of Life and Death" vom Chinesen Lu Chuan. Er erzählt darin die Geschichte der Bewohner der alten chinesischen Kaiser- und Hauptstadt Nanking im Winter 1937/38. Nachdem Japan China bereits besiegt hatte, kam es zum schlimmsten Massaker des japanisch-chinesischen Krieges – unvorstellbare Grausamkeiten, Massenmorde und Massenvergewaltigungen, die in ihren Details unsere Vorstellungskraft sprengen. "City of Life and Death" ist eine Darstellung der Ereignisse aus chinesischer Sicht – mit bemerkenswerterm Verzicht auf alle Propaganda. Der Film, ganz auf Schwarzweiß gedreht, sieht im Kontrast zu seinem Inhalt schön aus, vage gar ans Kino des Neorealismus erinnernd, er ist ein Spielfilm, dessen Inhalt fast völlig historisch beglaubigt ist
und zeigt mit erschreckender Deutlichkeit die Wirklichkeit im Nanking unter japanischer Besatzung. Hier sieht Krieg aus, wie man sich vorstellen kann, dass er tatsächlich aussieht, man sieht keine Kulissen wackeln, und wenn Menschen sterben, erscheint keine Sonne im nebligen Morgenlicht. Damit ist der Film zum Einen das überfällige Korrektiv zur allzu konsumierbaren, zudem recht deutsch-nationalistischen Darstellung dieser Geschichte in Florian Gallenbergers "John Rabe" - und ein Preiskandidat für das Wochenende. Vor allem die Frauen machen hier Schreckliches durch, auch Kinder werden vergewaltigt, und je mehr man sich die Ereignisse in Nanking vertraut macht, um so unverständlicher werden sie. Auch irgendwelche Erklärungen aus der Relation zwischen Sieger und Besiegtem, oder aus der Japanischen Kultur führen nicht weit. Und so recht weiß ich auch nicht, was man mit der Bemerkung des Regisseurs auf der Pressekonferenz anfangen soll, "jeder" könne "ein japanischer Soldat sein." Wirklich? Wann? Unter welchen Umständen? Widerlegt diese Vorstellung nicht bereits der Film, der keine Helden und kaum Hauptfiguren hat, aber unter anderem von einem japanischen Soldat erzählt, der sich nicht an den Massakern beteiligt, sondern angewidert selbst erschießt?

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Danach sahen wir den bereits im vorherigen Text erwähnten "Isasoaren alaba" von Josu Martinez. Die Geschichte eines ETA-Märtyrers und derjenigen, die ihn genau als solchen auch verehren.

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Was uns dann allerdings in der Retro zu Filmen aus Frankreich begegnete, spottete jeder Beschreibung, und stellte auch "City of Life and Death" noch einmal in ein anderes Licht: Pascal Laugiers Film "Martyrs" beginnt wie ein x-beliebiger Horrorfilm: Lucie, ein Mädchen, das eine Weile von einer Frau in einem Kellerverließ gefangen gehalten wurde, kann entkommen. Es ist stark traumatisiert, vertraut auch in den folgenen Jahren nur ihrer besten Freundin Anna. 15 Jahre später nimmt sie blutige Rache an der Frau die sie für ihre Taten verantwortlich macht und ihrer Familie. So weit, so blutig. Aber dieser Teil der Handlung ist nach 20 Filmminuten erledigt. Dann geht es um das Verhältnis der beiden Freundinnen, und um jenen Dämon, der Lucie seit ihrer Gefangenschaft heimsucht. Da sieht man den Film auch ganz kurz - a propos Koinzidenzen - als Geschichte einer Mädchenfreundschaft und könnte ihn insofern als tiefschwarzes, pessimistsches Spiegelbild zu "Yuki & Nina" in der Zabaltegi-Reihe begreifen: Auch hier zwei Mädchen im Wald, weitab von der Welt. Ein Märchen, Schneeweißchen und Blutrot. Aber auch das führt ganz in die Irre und ist nach einer knappen Dreiviertelstunde mit dem Selbstmord Lucies vorbei. Schon bis dahin hat man Bilder von einer selten massiven Brutalität gesehen. Der Gipfel folgt aber erst: Anna, nun scheinbar allein im Haus, entdeckt dort ein Kellerverließ in dem genau jenes weibliche Wesen gefangengehalten wird, das wir und sie zuvor für ein Hirngespinst ihrer schwer gestörten Freundin hielten. Und ehe wir uns versehen, ist Anna dort selbst gefangen, die neueste und vielversprechendste menschliche Laborratte im Experiment einer katholischen Sekte, die eine Art Privatfabrik hat, in der sie wortwörtlich Märtyrer produziert, Menschen, die durch Leiden in einen Zustand zwischen Leben und Tod versetzt werden, um dort von ihm zu berichten.
Man kann das für Schwachsinn halten, für kalkuliert, für die typische Sicht unreligiöser Leute auf religiöse Erfahrung als ein Phänomen, das ihnen unbegreiflich ist. Der Wirkung des Films tut das wenig Abbruch. Während man im üblichen Kunstkino, auch höheren Niveaus, viel Muße hat, in Ruhe über Ästhetik, Machart und Theorie nachzudenken, ist diese Art von Gore-Horror reines Körperkino, das den Betrachter direkt packt, schüttelt, anwidert vielleicht, ihn zum Wegschauen nötigt unter Umständen, das aber, wenn man sich bis dahin ein wenig Offenheit erhalten hat, in jedem Fall mit ihm etwas anstellt, dem er sich nicht entziehen kann. Und das hat die herausfordernde Seherfahrung von "Martyrs" dann wieder mit allem guten Kunstkino gemeinsam.

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Zum Abschluss des Tages noch einmal "Roi & Reine" von Desplechin gesehen. Großartig wie alles von diesem immer noch unterschätzten Regisseur. Und angesichts der vorherigen Filme eine große Erholung, Trost und Glück. Wunderbar! Aber auch hier kann man, ist der Blick nur erstmal sensibilisiert, in den beiden verrwöhnten, narzisstischen Bourgeois-Egomanen Märtyrer erkennen, Menschen, die stellvertretend leiden und sich opfern, weil sie nicht anders können.

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