Sonntag, 27. September 2009

Kino zwischen Leben und Tod

Lu Chuan
Der verschwiegene Massaker: Beim Festival von San Sebastián triumphieren ein chinesischer Regisseur, sowie das spanische und das französische Kino - San Sebastián-Blog, 11. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Direkt nach der Vorstellung von Lu Chuans "City of Life and Death" wusste man: An diesem Film kommt die Jury nicht vorbei. Die grausigen Ereignisse des Massakers von Nanking 1937/38, die der Film zeigt, und das prächtige, aber doch kühle Schwarzweiß, in dem er sie erzählt, kontrastierten so stark mit dem warmen Spätsommerabend, an dem der Film letzte Woche auf dem Festival von San Sebastián gezeigt wurde, das es einen unwillkürlich fröstelte. Jetzt hat der junge chinesische Regisseur mit seinem dritten Spielfilm (schon der Neo-Western "Mountain Patrol" lief erfolgreich bei uns) nicht nur irgendeinen Preis, sondern die "Goldene Muschel" und damit den Sieg beim viertwichtigsten europäischen Filmfestival errungen. Auch der Preis für die beste Kamera und der Preis der ökumenischen Jury ("Signis") ging an den Film - eine verdiente Anerkennung, die nicht allein politisch gemeint ist, sondern auch künstlerisch. Die aber trotzdem auch den Tabubruch würdigt, mit dem ein Regisseur gegen die Verdrängung dieser unvergleichbaren Demütigung Chinas antritt, ohne in billige anti-japanische Propaganda zu verfallen.

Ein weiteren Preis durch die Jury unter Vorsitz des Franzosen Laurent Cantet ("Die Klasse") bekam der Franzose Francois Ozon für seinen neuen Film "Le Refuge" (Spezialpreis der Jury). Darin geht es um ein Girl, das von ihrem toten Freund schwanger ist, und sich aufs Land zurückzieht. Dann kommt der Bruder des Toten zu Besuch ... Für Ozon eher eine Routine-Arbeit, ein Zwischenwerk, bei dem man sich aber während des Ansehens trotz anfänglicher Reserve dabei ertappt, wie man zusehends interessiert wird, wie Ozon es immer wieder schafft, zwingend von Gefühlen zu erzählen - womit er natürlich perfekt in unsere Zeit passt, und bei Jurys wie Publikum viel mehr Erfolg hat, als das cinephilere, philosophischere, darum dann eben aber kühler wirkende Kino von Bruno Dumont oder Christophe Honoré, deren Filme leer ausgingen, obwohl sie Preise verdient hätten.

Insgesamt vier Preise gingen an drei verschiedene Filme aus Spanien - seit Jahren hatte das spanische Kino hier nicht mehr so viele Auszeichnungen erhalten. Am besten gefiel mir Isaki Lacuestas "Los Condenados" (Kritikerpreis), in dem eine Gruppe alter Freunde die gemeinsame Vergangenheit aufarbeitet - ein hochaktueller Film über den Umgang mit der Vergangenheit. Aber wieder ein bisschen zu hoch für eine Jury, in denen drei von sieben Mitgliedern Schauspieler sind.
Deren Geschmack traf offenbar dafür die resignierte Mitfünfzigerin in Javier Rebollos "La mujer sin piano" (Beste Regie), über die hier schon geschrieben wurde, und "Yo, tambien", über die Liebe zwischen einer gesunden Frau und einem Mann mit Down-Syndrom (Beste Schauspielerin, bester Schauspieler).

"Bresson ist mir scheißegal! Ich bin Anti-Bressonianer"

Bruno Dumont und sein neuer Film "Hadewijch"; San Sebastián-Blog, 10. Folge

Von Rüdiger Suchsland

"Je suis un terroriste de cinema!" - für knackige Kommentare ist der Franzose Bruno Dumont jederzeit zu haben, und wer seine vielfach preisgekrönten, unverwechselbaren Filme - "La Vie de Jesus", "L'Humanité", "29 Palms" und "Flandres" - kennt, bei dem mischen sich Bewunderung für einen großartigen Filmemacher mit der vagen Befürchtung, es gäbe womöglich angenehmere Zeitgenossen um miteinander ein Bier zu trinken, als Dumont - selbst Kritikerkollegen, die seine Filme achten und sonst für alles aus Frankreich zu haben sind, nehmen hier schon mal das Wort vom "Menschenhasser" in den Mund.

Der Eindruck muss korrigiert werden: Wer Dumont jetzt in San Sebastián auf der Pressekonferenz erlebte, oder ihm später über den Weg lief, der begegnete einem freundlichen, offenen Mann mit einigem Humor. Dumont hat nur keine Lust, sich unter sein Niveau zu begeben, oder von Kritikern immer wieder mit den gleichen Etiketten bedacht zu werden: "Minimalist", "Bressonianer" oder eben: "Anti-Humanist".

In seinem neuen Film "Hadewijch", der in Toronto den Kritikerpreis der Fipresci bekam, und jetzt in San Sebastián seine offizielle Premiere erlebte, erzählt Dumont von Celine, einer jungen Frau, die zunächst in einem Kloster aufgenommen werden will. Als das scheitert, weil ihr die Nonnen ihre Abstinenz und andere Selbstkasteiungen als "Exzess" und Narzissmus vorwerfen, studiert sie in Paris Theologie. Zunehmend verfällt das Mädchen aus gutem Haus in einen religiösen Wahn. Sie begegnet einem radikalen Moslemprediger, und beteiligt sich als Christin an einem Terroranschlag. Der Regisseur bleibt bis zum Ende ganz bei seiner Hauptfigur, nimmt Glauben und Mystik ernst – eine faszinierende Innenansicht religiösen Fanatismus’ und das - auch wenn Dumont es nicht hören mag, s.u. - an Bressons "Mouchette" erinnernde Portrait einer Märtyrerin und Heiligen, möglicherweise.

In der Pressekonferenz beschreibt Dumont seine Arbeit dann als "ein Kino der Ambiguität". Eindeutigkeit interessiere ihn nicht. "Aber", an die Zuschauer gerichtet: "Es ist Ihre Ambiguität, nicht meine." Er betont auch: "Ich glaube nicht an Gott" und wenn man den Film gesehen hat, muss Dumont das schon dazu sagen. An Bresson glaubt er offenbar auch nicht. Bei der PK weißt er alle Bresson-Vergleiche, die gerade von französischen Kritikern reflexhaft angestellt werden, zurück: "'Pickpocket' habe ich nie gesehen, natürlich kenne ich ein paar Filme Bressons, aber sie interessieren mich nicht besonders." Später im persönlichen Gespräch, wird er noch deutlicher: "Bresson ist mir scheißegal! Ich bin Anti-Bressonianer. Schreib' das!" Und lacht dazu.

Kleine Lolita in sexy Posen

Exploitation, Empfindungskino ohne Reflexion und deutsche Propaganda-Lügen - San Sebastián-Blog, 9. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Manchmal ist es besser, gar nichts zu schreiben. Zumindest zunächst einmal. Und eigentlich hätte ich Matthias Glasners neuen Film "This is Love" hier fürs erste und vielleicht überhaupt am liebsten unerwähnt gelassen. Ich schätze diesen Regisseur, ohne eigentlich genau zu wissen, warum. Er ist immerhin mutig, und scheint sich in seinen Filmen oft mehr für Bilder, für Momente, für Schönheit zu interessieren, als für das, was an vielen Filmhochschulen so unterrichtet wird. Und sein neuer Film "This is Love" ist ein Film, dem das schnelle Urteil bestimmt nichts nutzt.

"I walked out, it's so cheap" sagt die serbische Kollegin Dubravka, die dieses Jahr in der Fipresci-Jury sitzt, und und mir auf der Rolltreppe über den Weg läuft, "but I liked his first films..." Genau! "Terribile, terribile" seufzt eine italienische Kollegin... "This is Love" wird es schwer genug haben. Die Kombination aus der Tatsache, dass Glasner in seinem letzten Film im Berlinale-Wettbewerb vertreten war, und dass er jetzt im Wettbewerb von San Sebastián läuft, der zwar der viertwichtigste und -beste ist, aber mit denen von Cannes, Berlin, Venedig an Bedeutung eben doch nicht mithalten kann, verrät jedem, der sich für solche Dinge interessiert, dass der Film von den genannten drei A-Festivals offensichtlich abgelehnt wurde - was offiziell natürlich immer anders kommuniziert wird: "Wir haben denen den Film gar nicht gezeigt ...", "Der Film ist nicht fertig geworden ..." Klar. Logo. Was sonst?

Wir sind als Kritiker keine Fußballreporter, die unser nationales Team auf einem Turnier begleiten, und erklären, ob es das Finale erreicht oder wenn nicht, ob es an einer schlechten Schiedsrichterleistung lag. Schon gar nicht müssen wir mit dem Team fiebern und bangen. Sollten wir auch nicht.

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Wenn aber Medien oder Kollegen sich genau so verstehen, dann muss man gegenhalten. Lügen nennen, was sie sind. Genau darum und nur darum gibt es diesen Text. Denn nicht etwa eine wohlwollende Interpretation, sondern eine glatte Lüge, ist das, was in dem sogenannten Branchenmagazin "Blickpunkt Film", das manche immer noch für eine seriöse Publikation und nicht für ein von der Branche zum Eigenlob finanziertes Werbeblättchen halten, über "This is Love" online zu lesen war: "Fulminant gefeiert" worden, sei der Film. Nunja. Bei der Pressevorstellung verließen die Leute scharenweise das Kino noch während der Film lief. Die, die drin blieben, sprachen später nur noch vom "German-Handjob-Film", warum, darauf kommen wir noch. Am Abend gab es höflichen Applaus, keineswegs aber wurde da irgendwas groß oder fulminant gefeiert.

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In "This is Love" hat sich der Regisseur von "Der freie Wille", in dem ein entlassener Sexualstraftäter im Zentrum stand, wieder an einen überaus kontroversen, mit guten Gründen tabubesetzten Stoff gewagt: Pädophilie, das sexuelle Begehren eines Erwachsenen nach einem Kind. Schon, ob man hier überhaupt von "Liebe" reden kann, ist fragwürdig. Der Däne Jens Albinus (der leider eine absurde Fehlbesetzung ist) spielt Chris, einen jungen Mann, der gegen Kinderhandel und –prostitution kämpft, selbst aber für die Reize junger Mädchen alles andere als unempfänglich ist. Er verliebt sich in eine seiner Schützlinge – der Anfang einer Spirale in den moralischen und kriminellen Abgrund. Der Film ist zu großen Teilen durchdrungen von krasser Unsicherheit des Regisseurs: Nie findet Glasner eine klare Haltung zu seiner Figur, Chris bleibt zu unsympathisch, und auch dann schwer verständlich, wenn man sich auf ihn einlassen will.
Das Kernproblem liegt in diesem Fall im Verhältnis von Moral und Ästhetik. Glasner wollte - und da hat er wohl recht - keinen Thesenspielfilm gegen Pädophilie drehen. So etwas überzeugt bestenfalls moralisch und politisch, kann künstlerisch aber so gut wie nie glücken. Den Film, den er jetzt gedreht hat, kann man aber als Verteidigung von Pädophilie verstehen, oder ihm zumindest eine indifferente Haltung unterstellen. Ein Missverständnis, wird Glasner sagen. Aber das nutzt ihm nichts: Er hat den Film dem Publikum übergeben, und damit die Macht über ihn verloren. Bei der Pressekonferenz wurde zweimal gefragt ob "This is Love" nicht eine "Apologie" von Pädophilie darstelle. Und man kann diese Frage nicht als schlichte Dummheit abtun, denn Glasners Film ist an einigen Stellen in seiner Darstellung einfach schlüpfrig, und bestenfalls ambivalent. Dies gilt zum einen für das kleine Mädchen, die zehnjährige Jenjira. Dafür dass die Darstellerin Lisa Nguyen ein hübsches Mädchen ist, kann sie nichts. Dass Glasner sie in verführerische Kostüme steckt, schminkt und in sexy Posen inszeniert, mag noch der Rolle geschuldet sein. Sehr wohl aber hätten Regie und Kamera sie nicht ausschließlich auch für den Zuschauer als kleine Lolita inszenieren müssen, sie für den Zuschauer hässlich machen können. Der Zuschauer muss die Verführungskraft der Zehnjährigen für Chris verstehen, vielleicht auch einmal nacherleben - aber wenn ihm fortwährend nur ein Angebot zur Nachempfindung gemacht, wird, nicht zur Distanzierung, wenn der Regisseur seinen Zuschauer immer wieder in den POV eines Pädophilen versetzt und für diesen Entschuldigungen findet, ohne den Betrachter dann auch wieder zu enttäuschen - dann wird der Film zur Exploitation. Einmal mehr fällt hier also ein deutscher Film auf das Vorurteil herein, Kino sei Sentiment, nicht Reflexion, einmal mehr sieht man Empfindungskino ohne Gedanken. Dass man dem dann zugestehen muss, dass es stylish aussieht, ist kein Kompliment, sondern verstärkt angesichts des Themas nur noch den Irrweg.
Aber auch die konkrete Handlung setzt falsche Signale: Ein zweiter Erzählstrang zeigt Chris nämlich im Verhörzimmer der Polizei. Corinna Harfouchs starker Auftritt als Kommissarin, die über die Ermittlung mit ihren eigenen Dämonen konfrontiert wird, ist einer der Lichtblicke im Film. Sie verhört Chris vor allem, weil Jenjira vermisst wird, und man über ihn herausfinden will, wo sie ist. Nach Tagen verrät er am Ende des Films das Versteck. Dort wird sie gefunden, gefangengehalten ohne Wasser und Nahrung, fast gestorben. Das letzte Bild nun zeigt wie Jenjira und Chris im Polizeiwagen zurückfahren - und irgendwann schließen sich ihre Hände zärtlich ineinander. Diese Versöhnung des potentiellen Mörders und seines Beinahe-Opfers, die im Kontext nur als Verzeihung für seine Taten verstanden werden kann, ist einfach nur obszön - und wurde so auch empfunden.

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Glasner und Jürgen Vogel, erzählt eine deutsche Kollegin, würden gern ihre Zitate persönlich autorisieren lassen. Eine Unsitte, die alle Journalisten ärgert, die nur in Deutschland existiert, dort aber immer mehr um sich greift. Woanders wäre eine solche Forderung den Regisseuren und Darstellern persönlich peinlich. Ich selbst habe allein in San Sebastián mit Naomi Watts, Chiara Mastroianni, Christophe Honoré, Bruno Dumont um nur die wichtigsten zu nennen, Einzel-Interviews geführt. Niemand von diesen Leuten, die mit Verlaub ein wenig wichtiger sind, und mehr zu verlieren haben, als die Herren Glasner und Vogel, möchte "gegenlesen".
Aber nun, dann machen wir eben kein Interview, sondern nehmen einfach die Zitate aus der Pressekonferenz ganz ohne Autorisierung.

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Bei der Pressekonferenz nach der Premiere sagte Glasner, der abwechselnd auf deutsch und englisch antwortete, "It's very difficult for me to speak about my films", es sei ihm darum gegangen, "zwei Menschen zusammen zu bringen, die sich erkennen in ihrem Schmerz." Und weiter: "Alle Menschen, die immer gut drauf sind, machen mir irgendwie Angst. Die sind nicht in der Lage, Empathie zu empfinden." Es gehe in dem Film "um Liebe, um Verletzung, um zerstörte Liebe, um die zerstörerische Kraft von Liebe." Liebe ist für Glasner nur "diese komische romantische Idee, die ein Mythos war, der aus Literatur und Kunst stammt." Nach Nabokovs "Lolita" gefragt: Nein, damit habe das gar nichts zu tun. "Ich hab den Roman gelesen, den ich wesentlich besser finde als den Film."

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Kleine Anmerkung am Ende: Man sollte wissen, wo man hinfährt. Der dänische Hauptdarsteller Jens Albinus rief nach der Vorstellung ins Publikum - und erntete Buhs und Unmutsäußerungen der Basken. Nicht für seinen Auftritt, der es verdient hätte, sondern weil er "Eviva espana!" gerufen hat. Das ist mindestens so, als würde man in München rufen: "Hoch auf die Preußen!"

Freitag, 25. September 2009

Fleischgewordenes Kinozitat

Eine Begegnung mit Chiara Mastroianni - San Sebastián-Blog, 8. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Wenn man ihr gegenübersitzt, fällt es schwer, den Blick von ihrem Gesicht abzuwenden. Das liegt nicht allein daran, dass Chiara Mastroianni eine gut aussehende 37-jährige ist. Es liegt auch daran, dass man darin immer mehr sieht, als nur sie: Als Tochter von Catherine Deneuve und Marcello Mastroianni ist die französische Schauspielerin gleich das Kind zweier Ikonen des Kinos. Und weil sie ihren beiden Eltern wie aus dem Gesicht geschnitten ist, glaubt man im Gespräch mit ihr immer wieder auch für Sekunden, eine dunkelhaarige Deneuve oder eine weibliche Variante des Mastroianni aus der Zeit von Fellinis "La dolce vita" vor sich zu haben. "Natürlich kann das eine Bürde sein" sagt Mastroianni, die ganz offen über ihre Herkunft spricht, und gar nicht genervt wirkt, wenn man sie, irgendwann nach allen möglichen anderen Themen, auch mal schüchtern auf ihre Eltern anspricht - nur zu verständlich wäre es ja, wenn sie nach rund 40 Filmrollen solche Fragen nicht mehr hören kann. Aber in Frankreich ist das dynastische Prinzip auch unter Schauspielerfamilien viel weiter verbreitet, und Mastroianni ist selbstbewußt genug, um nicht daran zu zweifeln, dass sich ihr Gegenüber für sie nicht nur als Tochter ihrer Eltern interessiert. "Gerade weil ich den Beruf meiner Eltern ergriffen habe, werde ich ja nicht nur äußerlich mit ihnen verglichen." Gerade in den letzten Jahren hat Mastroianni, nachdem sie als Mutter von zwei Kindern einige Zeit kürzer trat, wieder viel gearbeitet, und in einigen der wichtigsten französischen Filme der letzten Zeit mitgewirkt: Zusammen mit ihrer Mutter sprach sie die Hauptrolle in der Synchronfassung von Marjane Satrapis Animationswelterfolg "Persepolis", und mit der Deneuve spielte sie 2008 auch - nicht deren Tochter - in Arnaud Desplechins großartiger Familiengeschichte "Un Conte de Noel", der in Frankreich wie in den USA sehr erfolgreich lief, in Deutschland aber typischerweise mal wieder nicht ins Kino kam. Dort hat sie atemberaubende Momente. An den Film erinnert jetzt in manchem "Non ma fille, tu n'iras pas dancer" ("Making Plans for Lena") von Christophe Honoré, mit dem Mastroianni im Wettbewerb des Festivals im baskischen San Sebastián vertreten ist.

Auch dies eine Familiengeschichte, die beginnt, wie viele Filme aus Frankreich: Im Landhaus der Eltern treffen sich drei Geschwister, ihre Partner und Kinder. Es wird gegessen, in der Sonne gesessen, viel geredet über die Liebe und das Leben. Lena, von Mastroianni in einer wunderbar paradoxen Mischung aus Hysterie und Passivität (aus Deneuve und Mastroianni?) gespielt, die mittlere der Geschwister, ist frisch geschieden, und bekommt nun von Eltern, großer Schwester und kleinem Bruder viele gute und gutgemeinte, aber in der Praxis absolut untaugliche Ratschläge. Dann wird von der Mutler auch noch der frisch getrennte Gatte eingeladen - und so ist dies im Ergebnis eine intelligente Komödie über eine Familie, deren Geheimnisse und Störungen zunehmend ans Tageslicht treten, in der sich trotzdem alle irgendwie lieb haben. Gefilmt ist das Ganze in dem schon jetzt unvergeichlichen Stil dieses Interessantesten unter den jüngeren Franzosen - einem Stil, der manchen hier extrem auf die Nerven geht, weil er in seinen irritierenden Tonwechseln ziemlich kompliziert und elitär ist, zwar sehr souverän mit Versatzstücken und kleinen Elementen, auch Zitaten arbeitet, sich aber im Gegensatz zu Desplechin nie dafür interessiert aus ihrer Kombination einen Sog zu entwickeln.

Dies ist schon der dritte Film, den Mastroianni mit Honoré gedreht hat, nach einem Miniauftritt in "La Belle Personne", einer modernen Fassung der "Princess de Cleve", in der sie wohl vor allem deshalb auftaucht, weil sie bei Olivera mal diese Rolle gespielt hat, und dem Musicalfilm "Les Chancons de L'amour" der auch bei uns erfolgreich lief, und in San Sebastián in der Retrospektive "La ContraOla" gezeigt wird, die dem neuen französischen Kino gewidmet ist. Honoré gibt übrigens auf Nachfrage offen zu, dass er Mastroianni nicht nur als Darstellerin, sondern auch als fleischgewordenes Kinozitat verpflichtet hat - "Ich wäre dumm, wenn ich so täte, als könnte man das ignorieren." Mastroianni stört das nicht, sie findet ganz gelasssen: "Ich arbeite gern mit den gleichen Leuten."

Desperate Housewives in Madrid

Aber mehr Kaurismäki als Almodóvar, Kritikertalk und Publikumsbeschimpfung, sowie ein Sekret in argentinischen Augen - San Sebastián-Blog, 7. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Eine Frau am Morgen im Bademantel. Sie ist schon älter, aber nicht alt. Sie hat keine Eile, sich anzuziehen. Ihr Mann, ein Taxifahrer, ist schon weg zur Arbeit, die Rippchen für den Mittag sind vorbereitet. Wir werden diese Frau begleiten in ihrem Leben bis zum nächsten Morgen. Sie macht die Hausarbeit, verdient nebenbei ein wenig Geld mit Schönheitsbehandlungen - Haare entfernen und so - und bekommt entsprechend Besuch von Kundinnen. Ihr Mann wird anrufen und sagen, dass er doch nicht zum Mittagessen heimkommt. Sie wird sich selbst befriedigen, und am Abend mit ihrem Mann vor dem Fernseher sitzen. "La mujer sin piano", also "Die Frau ohne Klavier" heißt dieser zweite Spielfilm des Spaniers Javier Rebollo ("Lo que sé de Lola") im San Sebastián-Wettbewerb, und man fragt sich zwischendurch, ob der Titel womöglich einfach als Anspielung auf "Die Klavierspielerin" gemeint ist. in jedem Fall könnte der Film auch "Desperate Housewives in Madrid" heißen, vielleicht noch mit dem Zusatz "meets Kaurismäki". Rebollos Film ist ganz spartanisch und lakonisch erzählt, mit einem absurdistischen Humor, der anfangs im subtilen Spiel aus Wiederholung, Aufeinanderfolge und Deja Vu's fast schon an Tati erinnert, in der zweiten Hälfte aber ins Kaurismäki-Terrain abgleitet, zu sehr auf Skurrilitäts-Witzischkeit setzt, verbunden mit einer latenten Elendspoesie, díe schnell auf die Nerven geht, und - weil vorhersehbar - langweilt.
Aber bleiben wir noch bei der ersten Hälfte: Denn da setzt der Regisseur ganz auf die Komik von Alltagssituationen: Telefonwarteschleifen und Telefonwerbung, deren Anrufe immer im falschen Moment kommen. Die Allgegenwart von Mobil-Telefonen. Schalterbeamte, die auf irgendwelchen sinnlosen Formalien bestehen, wie die Dame bei der Post, die unserer Hauptfigur ein Paket nicht herausgibt, weil ihr Ausweis abgelaufen ist. Sie hatte etwas in einer TV-Verkaufssendung bestellt. Die überlaute Dauerpräsenz des Fernsehens soll auch witzig sein, und uns zugleich die Absurdität unser allen Daseins vorführen. Wie gesagt, funktioniert das solange, wie es beiläufig bleibt. Dann, am Abend, als der Gatte eingeschlafen ist, wird es aufdringlich: Da setzt die Hausfrau sich eine Perücke auf, bewegt sich durchs menschenleere, nächtliche Madrid, trifft einen Polen, wird für eine Nutte gehalten, sitzt mit Dauerlächeln, das von Verzweiflung kaum zu unterscheiden ist, in Cafes herum. Da wartet man dann nur noch darauf, dass weiterhin nichts passiert, sie endlich nach Hause zurückkehrt, und der Film vorbei ist.

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Im Bus zum Festivalzentrum begegne ich Jan Lundholm, Kritiker aus Schweden und ein Dauergast auf den großen Festivals. Er fragt, was ich gesehen hätte, und als ich ihm erzähle, gestern hätte ich einen Film gesehen, den man "Desperate Housewives in Madrid" nennen könnte, sagt er: "Das klingt aber nach einem Almodóvar-Film". Aber Almodóvar, sage ich, "das sind ja doch mehr die "happy desperate housewives". Wir kommen auf die Franzosen-Reihe, er sagt, er könne diese bourgeoisen Männer und Frauen der Franzosen nicht mehr sehen, und während ich ihm erkläre, dass mir das zwar nichts ausmacht, die Filme hier aber sowieso ganz anders seien, kommt er auf Agnes Jaoui und Resnais, die Franzosen, die der mag. Bei Jaoui hätte er mich ganz auf seiner Seite, sage ich, aber Resnais, der gehe mir doch mittlerweile auf die Nerven. Den frühen Resnais finde ich ganz toll, die Filme der letzten Jahre seien demgegenüber eine einzige Enttäuschung, läppische und selbstgefällige Alterswerke, und außerdem mag ich's nicht, wenn Leute auf der Leinwand singen. Jan verteidigt Resnais, vergleicht ihn mit Ozu, von dem er im Sommer acht Filme gesehen hat. Schnell ist er bei der Criterion-Box "Silent Ozu" und bei den Varianten einer amazon-Bestellung. Ich frage ihn, ob er letztes Jahr in der "Japon en negro"-Retrospektive zum japanischen Film-Noir "Dragnet Girl" gesehen hat, den einzigen Ozu, bei dem ein Schuss abgegeben wird. Dann versuche ich es nochmal, ihm die Franzosen schmackhaft zu machen, erwähne Christoph Honoré. "Da wird doch auch viel gesungen" sagt er. Stimmt, "you've got a point" gebe ich zu, sogar viel, aber im Fall von Honoré mache es mir halt nix aus. Dann ist der Bus am Ziel, und wir steigen aus - und eines jener typischen Gespräche, wie es Kritiker auf Festivals führen, ist vorbei.

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"Das Leben auf Festivals ist viel intensiver" hatte die deutsche Kollegin Julia Macher erst vor zwei Tagen gemeint, "da passiert ganz viel in ganz kurzer Zeit." Das auch, ja. So intensiv, dass wir uns dann kaum noch über den Weg gelaufen sind. Im Festivalzentrum dann spricht mich ein spanischer Kollege - wie heißt der nur wieder? - an, ob ich schon den Kritikerspiegel in der örtlichen Zeitung "Diaro Vasco" gesehen hätte. Bei den spanischen Kritikern gilt Christophe Honorés "Making Plans for Lena" als bislang schlechtester Film des ganzen Wettbewerbs und läge ganz hinten, dicht gefolgt von Bruno Dumonts "Hadewijch". Ich verweise auf das Publikumsbarometer, wo mein persönlicher Lieblingsfilm "Yuki & Nina" ebenfalls und unverständlicherweise fast ganz am Ende der Publikumsgunst liegt, und Hanekes "Das Weiße Band" ist kaum besser platziert. Schlechter liegt hier nur noch Jim Jarmuschs "The Limits of Control". Der läuft hier, weil er in Spanien noch nicht gestartet ist. Ganz vorne in der Publikumsgunst liegt "Desert Flower", eine politisch korrekte Schmonzette über Frauenbeschneidung von Sherry Hormann und "Precious", ein Sundance-Erfolg. Diesen Film fanden viele gut. Ihn hatte ich nicht gesehen, weil ich die Inhaltsbeschreibung gelsen hatte: "Prescious Jones is a High-School-Girl with nothing working in her favor. She is pregnant with her father's child for the second time. She can't read or write, and her schoolmates tease her for beeing fat. Her home life is a horror, ruled by a mother who keeps her imprisoned both emotionally and physically."
Natürlich auch nur persönliche Vorurteile meinerseits. Bei den Filmen, die ich kenne, kann ich allerdings sicher sagen: Je schlechter die Publikumszustimmung, um so besser der Film. Der spanische Kollege, dessen Name mir einfach nicht einfallen will, widerspricht: "Von einem Kritiker verlange ich ein bisschen mehr als vom Publikum. Ich schäme mich für solche Kollegen." Vielleicht liegt es aber auch in der Natur eines "Kritikerbarometers, das dann Schnittmengen sammelt. Bei Mehrheitsentscheidungen, auch unter Kritikern, das beweisen auch die Kritikerpreise in Deutschland, kommt meistens etwas Dummes heraus. Dafür muss man nicht bis zur Wahl am Sonntag warten.

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Um einiges überschätzt wird von vielen der argentinische Wettbewerbsbeitrag "El secreto de sus ojos" - übrigens der klar führende in der erwähnten Kritikerwertung. Ein formal ganz anständiger Thriller über einen Ermittler, der sich nach seiner Pensionierung daran macht, ein 25 Jahre altes Verbrechen doch noch aufzuklären, das ihn einfach nicht loslässt. Das führt ihn in die Zeit der Diktatur, der argentinischen Todesschwadronen zurück. Vor allem aber geht es um die Mitläufer und Mitschweiger, um die, die weggesehen haben. Als Kommentar zu diesem Feld aus Schönfärben und Vergessen funktioniert der Film - und wird bestimmt am Samstag einen Preis gewinnen. Man könnte sich ihn auch in Deutschland, oder überhaupt in Europa im Kino gut vorstellen. Aber eben vor allem, weil er nie wehtut, weil er im Gegenteil das Allgemeine mit einer privaten Liebesgeschichte vermengt. Das ist nun keineswegs eine Konkretisierung, wie die Marketingfachleute dann eilfertig dem Formelkino die Formel hinterherliefern, sondern eine Verfälschung. Das Sentimentale bettet hier nicht das Unsentimentale ein, sondern macht es unsichtbar, und die Trauer der Hauptfigur, die als politisch korrekte Verarbeitung verkauft wird, ist am Ende doch nur das Selbstmitleid eines Mannes, der bei einer Frau nicht zum Zuge kam. Zum Liebeskitsch kommt dann der Politkitsch hinzu, um die Wahrheit vollends verschwinden zu lassen.
So geht es derartigen Filmen, wie dem Kaffee, dem erst Süßstoff beigemischt wird, um die unangenehme Substanz überhaupt erst konsumierbar zu machen, der dann aber auch noch dekoffeiniert wird. Was bleibt, ist Zuckerwasser.

Dafür, dass diesem Eindruck nichts hinzuzufügen ist, spricht auch, dass der Film von den Kultur-Journalisten der westeuropäischen Hemisphäre, Spaniens wie Deutschlands, die seit jeher im Salon der folgenlosen Polit-Debatten sich warm gebettet haben, überaus wohlwollend aufgenommen wird, während die Lateinamerikaner, die ja wissen sollten, wovon die Rede ist, "El secreto de sus ojos" mehrheitlich verachten. Die 1,3 Millionen Zuschauer, die der Film in Argentinien angeblich ins Kino lockte, taugen nicht zur Widerlegung - das ist dann bestenfalls Laufkundschaft, schlimmstenfalls handelt es sich um die Profiteure des Beschweigens und ihre naiven Claqueure. Am Einfachsten brachte alles aber die Journalistin Pamela Pienzobras aus Chile auf den Punkt: "'El secreto de sus ojos' hat mit der Wahrheit über Argentiniens Diktatur so viel zu tun, wie 'Das Leben der Anderen' mit der über die DDR.

Donnerstag, 24. September 2009

Am Tag der Märtyrer

Foto: "City of Life And Death"
Schneeweißchen und Blutrot, Leben und Tod und König und Königin - San Sebastián-Blog, 6. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Manchmal tun sich auf Festivals die seltsamsten Koinzidenzen auf: Filme, die nichts miteinander zu tun haben, treffen aufeinander, korrespondieren, spiegeln oder ergänzen sich. Und es tun sich Zusammenhänge auf, die plötzlich, nach dem dritten oder vierten Film das schon Gesehene auch rückwirkend noch einmal wieder in anderem Licht erscheinen lassen.
So gab es in San Sebastián diesmal einen Tag der Märtyrer: Zunächst lief am Morgen "City of Life and Death" vom Chinesen Lu Chuan. Er erzählt darin die Geschichte der Bewohner der alten chinesischen Kaiser- und Hauptstadt Nanking im Winter 1937/38. Nachdem Japan China bereits besiegt hatte, kam es zum schlimmsten Massaker des japanisch-chinesischen Krieges – unvorstellbare Grausamkeiten, Massenmorde und Massenvergewaltigungen, die in ihren Details unsere Vorstellungskraft sprengen. "City of Life and Death" ist eine Darstellung der Ereignisse aus chinesischer Sicht – mit bemerkenswerterm Verzicht auf alle Propaganda. Der Film, ganz auf Schwarzweiß gedreht, sieht im Kontrast zu seinem Inhalt schön aus, vage gar ans Kino des Neorealismus erinnernd, er ist ein Spielfilm, dessen Inhalt fast völlig historisch beglaubigt ist
und zeigt mit erschreckender Deutlichkeit die Wirklichkeit im Nanking unter japanischer Besatzung. Hier sieht Krieg aus, wie man sich vorstellen kann, dass er tatsächlich aussieht, man sieht keine Kulissen wackeln, und wenn Menschen sterben, erscheint keine Sonne im nebligen Morgenlicht. Damit ist der Film zum Einen das überfällige Korrektiv zur allzu konsumierbaren, zudem recht deutsch-nationalistischen Darstellung dieser Geschichte in Florian Gallenbergers "John Rabe" - und ein Preiskandidat für das Wochenende. Vor allem die Frauen machen hier Schreckliches durch, auch Kinder werden vergewaltigt, und je mehr man sich die Ereignisse in Nanking vertraut macht, um so unverständlicher werden sie. Auch irgendwelche Erklärungen aus der Relation zwischen Sieger und Besiegtem, oder aus der Japanischen Kultur führen nicht weit. Und so recht weiß ich auch nicht, was man mit der Bemerkung des Regisseurs auf der Pressekonferenz anfangen soll, "jeder" könne "ein japanischer Soldat sein." Wirklich? Wann? Unter welchen Umständen? Widerlegt diese Vorstellung nicht bereits der Film, der keine Helden und kaum Hauptfiguren hat, aber unter anderem von einem japanischen Soldat erzählt, der sich nicht an den Massakern beteiligt, sondern angewidert selbst erschießt?

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Danach sahen wir den bereits im vorherigen Text erwähnten "Isasoaren alaba" von Josu Martinez. Die Geschichte eines ETA-Märtyrers und derjenigen, die ihn genau als solchen auch verehren.

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Was uns dann allerdings in der Retro zu Filmen aus Frankreich begegnete, spottete jeder Beschreibung, und stellte auch "City of Life and Death" noch einmal in ein anderes Licht: Pascal Laugiers Film "Martyrs" beginnt wie ein x-beliebiger Horrorfilm: Lucie, ein Mädchen, das eine Weile von einer Frau in einem Kellerverließ gefangen gehalten wurde, kann entkommen. Es ist stark traumatisiert, vertraut auch in den folgenen Jahren nur ihrer besten Freundin Anna. 15 Jahre später nimmt sie blutige Rache an der Frau die sie für ihre Taten verantwortlich macht und ihrer Familie. So weit, so blutig. Aber dieser Teil der Handlung ist nach 20 Filmminuten erledigt. Dann geht es um das Verhältnis der beiden Freundinnen, und um jenen Dämon, der Lucie seit ihrer Gefangenschaft heimsucht. Da sieht man den Film auch ganz kurz - a propos Koinzidenzen - als Geschichte einer Mädchenfreundschaft und könnte ihn insofern als tiefschwarzes, pessimistsches Spiegelbild zu "Yuki & Nina" in der Zabaltegi-Reihe begreifen: Auch hier zwei Mädchen im Wald, weitab von der Welt. Ein Märchen, Schneeweißchen und Blutrot. Aber auch das führt ganz in die Irre und ist nach einer knappen Dreiviertelstunde mit dem Selbstmord Lucies vorbei. Schon bis dahin hat man Bilder von einer selten massiven Brutalität gesehen. Der Gipfel folgt aber erst: Anna, nun scheinbar allein im Haus, entdeckt dort ein Kellerverließ in dem genau jenes weibliche Wesen gefangengehalten wird, das wir und sie zuvor für ein Hirngespinst ihrer schwer gestörten Freundin hielten. Und ehe wir uns versehen, ist Anna dort selbst gefangen, die neueste und vielversprechendste menschliche Laborratte im Experiment einer katholischen Sekte, die eine Art Privatfabrik hat, in der sie wortwörtlich Märtyrer produziert, Menschen, die durch Leiden in einen Zustand zwischen Leben und Tod versetzt werden, um dort von ihm zu berichten.
Man kann das für Schwachsinn halten, für kalkuliert, für die typische Sicht unreligiöser Leute auf religiöse Erfahrung als ein Phänomen, das ihnen unbegreiflich ist. Der Wirkung des Films tut das wenig Abbruch. Während man im üblichen Kunstkino, auch höheren Niveaus, viel Muße hat, in Ruhe über Ästhetik, Machart und Theorie nachzudenken, ist diese Art von Gore-Horror reines Körperkino, das den Betrachter direkt packt, schüttelt, anwidert vielleicht, ihn zum Wegschauen nötigt unter Umständen, das aber, wenn man sich bis dahin ein wenig Offenheit erhalten hat, in jedem Fall mit ihm etwas anstellt, dem er sich nicht entziehen kann. Und das hat die herausfordernde Seherfahrung von "Martyrs" dann wieder mit allem guten Kunstkino gemeinsam.

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Zum Abschluss des Tages noch einmal "Roi & Reine" von Desplechin gesehen. Großartig wie alles von diesem immer noch unterschätzten Regisseur. Und angesichts der vorherigen Filme eine große Erholung, Trost und Glück. Wunderbar! Aber auch hier kann man, ist der Blick nur erstmal sensibilisiert, in den beiden verrwöhnten, narzisstischen Bourgeois-Egomanen Märtyrer erkennen, Menschen, die stellvertretend leiden und sich opfern, weil sie nicht anders können.

Alice im Baskenland

Das Meer, das Meer ... San Sebastián-Blog, 5. Folge

Von Rüdiger Suchsland

San Sebastián ist immer auch ein Ort, an dem das Baskenland sich mit sich selbst beschäftigt. Nicht immer ist das, was dabei herauskommt überzeugend, und manchmal ist es richtig peinlich, und dabei leider auch ein wenig verräterisch für die Mentalitäten, die hier auch in nicht geringem Mass vertreten sind. So geschehen in "Isasoaren alaba" von Josu Martinez. Der Titel bedeutet "Tochter des Meeres" und der Film handelt von Mikel Goikoetxea, einem führenden ETA-Mitglied, das 1983 von der geheimen Regierungsorganisation GAL getötet wurde. Im Zentrum des Films steht Goikoetxeas Tochter Haize, die heute 26 ist, und ihren Vater nie persönlich, sondern nur aus Erzählungen gekannt hat. Haize fungiert im Film als Erzählerin. Immer wieder sitzt sie wie die kleine Meerjungfrau am Strand und sehnt sich nach ihrem Vater, dessen Asche in der kantabrischen See verstreut wurde, träumt vom Bad in den Wellen als Gespräch mit dem Vater - eine seltsame Vereinigungsphantasie und persönlich unbedingt eine traurige Geschichte. Politisch oder historisch bringt der Film aber nichts.
Wie Alice durchs Wunderland geht dieses reichlich unbedarfte Geschöpf durch den ungepflegten Garten der baskischen Geschichte, und trifft Monster, Fabelwesen und Geister, die mit ihren Erinnerungen jeweils ein paar neue Puzzlesteine zur Geschichte ihres Vaters hinzufügen. Das ist irgendwie interessant und trotzdem gar nicht ergiebig - zugleich vor allem aber ein Dokument schreiender Unbelehrbarkeit und Selbstgerechtigkeit. Denn nie im Film wird die Position des Vaters oder der ETA ernsthaft infrage gestellt, und über die GAL erzählt der Film auch nichts. Zwischen lauter sich fortwährend selbst bemitleidenden Terroristen und aufrechten Terroristenwitwen werden nicht ein einziges Mal die Opfer der anderen Seite auch nur erwähnt. Aber gerade eine Position, die es für möglich hält, dass der bewaffnete Kampf der ETA auch nach Francos Tod und dem Beginn der spanischen Demokratie noch etwas Legitimes gehabt haben könnte, gibt sich hier zu viele Blößen. So ist "Isasoaren alaba" vor allem nationalistischer Kitsch.

Auf Messers Schneide


Fotos: Brooks; Grant in "Crisis"

Cary Grant als Hirnchirurg und die Richard-Brooks-Retrospektive; San Sebastián-Blog, 4.Folge

Von Rüdiger Suchsland

Nein, berühmt ist Richard Brooks nicht wirklich, aber er war einer der Besseren unter den Hollywood-Routiniers, einer der gut war, ohne dass er je eine eigene erkennbare Handschrift entwickelt hätte, einer dessen Filme man kennt, ohne ihn selbst zu kennen: "Die Katze auf dem heißen Blechdach", die Capote-Verfilmung "In Cold Blood", die "Brüder Karamasow" mit Yul Brunner und "Lord Jim" mit Spencer Tracy - man sieht: ein Experte für Literatur-Verfilmungen, mehrfacher Oscargewinner und Berühmtheit zu Lebzeiten.

Wirklich interessant an der Richard-Brooks-Retrospektive in San Sebastián sind aber Brooks' frühe Filme. Werke, zu denen er in seiner Anfangsphase manchmal auch nur das Drehbuch geschrieben hat. Denn bis er Mitte der 50er Jahre Teil des liberalen Mainstream wurde, war Brooks, Sohn jüdisch-russischer Einwanderer, 1912 geboren, ein Hollywood-Linker im Umfeld jener Leute, die unter McCarthy ins Gefängnis geworfen oder außer Landes gezwungen wurden. Brooks’ frühe Werke sind politisch und auch als Filme faszinierend: Etwa "Crisis" von 1950, ein großartiger Film nach einem Roman von George Tabori (!) über eine fiktive Latino-Diktatur, dessen Diktator in seinem sardonischen Charme ein bisschen an Peter Ustinovs Nero in "Quo Vadis" erinnert, ein wenig auch an Mussolini, und insofern unbedingt auch als Kommentar zum Faschismus zu verstehen ist. Dieser Diktator leidet an einem Hirntumor, ein Aufstand tobt im Land, und der Held des Films ist Cary Grant - als Hirnchirurg! Als solcher wird er gezwungen, den Diktator zu operieren und bewegt sich somit in allem sattsam bekannten komischen Cary-Grant-Ernst zwischen ärztlicher Pflicht und politischer Neigung auf Messers Schneide - sounds trashy, doesn't it? But beautiful!
In anderen frühen Brooks-Filmen (über die wir vielleicht ein andermal noch mehr schreiben) geht es zum Beispiel um Nazi-Kollaborateure im Nachkriegs-Paris, über Antisemitismus in Amerika, und über Pressefreiheit - mit Humphrey Bogart als Chefredakteur einer NY-Times-ähnlichen Tagezeitung...
Es geht in Brooks' Filmen immer (!!) auch um das, was aus der Faschismus-Erfahrung eines liberalen Juden in der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde, und was man aus ihr lernen könnte. Also auch um die Trauer, dass man zu wenig lernte, dass die alten Nazis oft an der Macht blieben, beziehungsweise es auch in den Demokratien faschistoide Gesinnungen, Sympathien, Verhaltensweisen gibt ...

Dienstag, 22. September 2009

Der Wald und die Wahrheit

"Yuki & Nina" von Nubohiro Suwa und Hippolyte Girardot; San Sebastián-Blog, 3. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Das erste Highlight in San Sebastián, in der Nebenreihe "Zabaltegi" - und man ahnt schon, dass dies wohl einer der Filme dieses Festivals bleiben wird. So intensiv war die Erfahrung, so außerordentlich die Wirkung dieses bezaubernden Films: "Yuki & Nina" ist eine Gemeinschaftsarbeit der Regisseure Nubohiro Suwa und Hippolyte Girardot, die ihre Premiere im Frühjahr in der "Quinzaine" von Cannes hatte.

Tatsächlich geht es auch in dem Film um französisch-japanische oder europäisch-ostasiatische Nähe und Ferne, aber so wenig didaktisch, so fern von aller Identitätshuberei, wie nur denkbar ist. Stattdessen sieht man einen Film, dem das Kunststück gelingt, ganz aus Kindersicht zu erzählen, und diese Perspektive vom ersten bis zum letzten Bild durchzuhalten. Aus Kindersicht, das heißt auch, dass es hier tatsächlich immer wirkliche Kinder sind, um die es geht, nie kleine Erwachsene.

Die Hauptperson des Films ist Yuki. Nina ist ihre beste Freundin. Beide sind acht Jahre alt und leben in Paris. Am Anfang sieht man beide, wie sie zusammen von der Schule zu Nina nach Haus kommen, reden. Vor allem Nina redet, viel und bestimmt. Yuki ist meist still. Eine Beobachterin mehr als eine Träumerin. Irgendein Geheimnis scheint sie zu umwehen, und vielleicht ist es ihre Herkunft aus zwei Kulturen, die ihr ein Gefühl des Andersseins, eine Distanz und zunächst kaum spürbare Zögerlichkeit gibt. Vielleicht ist sie auch nur einfach die stillere der beiden. "Je suis comme ca.", "ich bin eben so" wird sie später mal sagen, als Nina sie fragt, warum sie immer so ängstlich ist.

Die allererste Szene zeigte Nina mit ihrer Familie bei einem Picknick im Park. Ein alter Mann, vermutlich der Großvater, malt ein Bild. Ein Fuchs und eine Nachtigall sind darauf, und der Alte erklärt Yuki geduldig, warum er den Baum in Gelb gemalt hat - "weil er das Licht der Sonne reflektiert" - und warum der Fuchs nicht unbedingt böse ist, wenn er die Nachtigall fressen will. Eine Lektion übers Kino und übers Leben ist das also, die auch uns Zuschauern gilt, man muss genau hinschauen, und es ist nie nur eine Seite, die recht hat.

Yuki wird das lernen im Laufe des Films. Sehr bald erfährt sie, dass sich ihre Eltern, sie haben sich schon länger nicht mehr verstanden, trennen werden. Die Mutter will zurück nach Japan, Yuki soll mit. "ich will nicht nach Japan" sagt sie, und wir hören mit ihr ihren Eltern zu, die sich streiten: "Sie ist französisch." sagt der Vater, "sie ist nicht nur französisch" die Mutter.

Es entspinnt sich nun die Geschichte einer allmählichen Emanzipation der Kinder, die keineswegs ein "Abschied von den Eltern" ist, sondern eine Verteidigung der Kindheit. Was an "Yuki & Nina" wohl unter anderem so gut funktioniert, ist, dass man selbst mit den Erfahrungen der Mädchen zurückgerissen wird in die eigene Kindheit, in die Ohnmacht und die Fluchtbewegungen, die Ausbrüche, die universale Distanzierung von den Zumutungen der Eltern, die wohl ein Erwachsenwerden ist, aber auch einfach Hilflosigkeit.

Man sieht zunächst zwei Mädchen aus bürgerlichen Verhältnissen - natürlich ist das insofern ein "typisch französischer" Film, als dass er einmal mehr in der Pariser Bourgeoisie angesiedelt ist, ihren uns so wohlbekannten Verhaltensweisen entspricht, Mahlzeiten zeigt und Kunstwerke, schöne Möbel und schöne Ausblicke -, wie sie der Liebesfee einen Brief schreiben, mit den Eltern diskutieren - vor allem mit Ninas Muter, die bereits geschieden ist, und ihnen erklärt, dass das "Leben nicht immer so ist, wie wir es wollen.", dass es ein "Ende der Liebe" gibt, und dann fragt: "Liebt ihr Euch immer?" - und dann vor allem untereinander: "Du hast keine Ideen. Was tust Du?" regt Nina sich auf, und Yuki sagt mal wieder nichts. Das ist auch immer wieder lustig, gerade weil der Film sich nie anbiedert, die Erfahrungen und Erlebnisweise der Kinder ernst nimmt; und auch, weil immer klar ist: Nichts ist perfekt in diesen Leben, weder bei den Erwachsenen, noch bei den Kindern.

Dann, als klar ist, dass Yuki wohl nach Japan muss, sieht man lauter letzte Tage. "J'irais pas au Japon." sagt Yuki. Die Mädchen hauen einfach ab zusammen. Zuerst sieht man sie sich in der Stadt bewegen, dann geht es ins Landhaus von Ninas Vater, sie zelten im Wohnzimmer, reden über Feen und Goblins, doch als sie auch da nicht bleiben können, gehen sie in den Wald. Der ist nicht französisch, nicht zivilisiert, sondern japanisch oder rousseauistisch: Ein Ort der Geborgenheit, ein Zurück zur Natur. Elfen und Geister gibt es hier wohl auch, aber sie sind nicht gefährlich. Die Kamera betont das Geheimnis. Sie zeigt das Licht der Sonne auf dem Farn und plötzlich sieht alles ganz gelb aus, dann wieder dunkel. Zwischendurch sind wir mit Yuki auch plötzlich schon mal in Japan, da verlässt der Film die realistische Ebene, wird spirituell, und das können der Regisseure zeigt sich darin, dass wir das schon sehen können, bevor wir es erfahren.

Sehr gut erzählt ist alles, in stillen, intensiven Bildern, die immer mehr zeigen, als sie abbilden. Und man denkt bei diesem Weg in den Wald, bei der Transformation Yukis auch an den letzten Film von Naomi Kawase. Wie dort gehen Traum und Wirklichkeit zwischendurch ineinander über.

Eine Geschichte, ein Märchen fast über Fremdheit und Grenzüberschreitung. Wenn der Film eine Moral hat, dann die Kinder und ihre Erfahrungen erst zu nehmen, nicht zu verkindlichen, und die, dass Kinder sich trennen müssen von Eltern, auch um deretwillen. "Are you happy to be here?" fragt die Mutter, "Yes", sagt Yuki, und wir glauben, dass sie nicht nur lügt in diesem Moment. Und der Refrain des Liedes, das dann aus dem Off kommt, heißt: "My parents depend on me."

Wenn Regisseure zu wenig lieben ...

... dann kommen die neuesten Filme von Atom Egoyan und Woody Allen heraus - San Sebastián-Blog, 2. Folge

Von Rüdiger Suchsland

"Chloe", das ist der erste Film von Atom Egoyan, zu dem der Kanadier nicht selbst das Drehbuch schrieb, eine "Auftragsarbeit", wie Egoyan auf der Pressekonferenz auch selbst sofort freimütig einräumte. So sieht das Ganze dann auch aus: Ein Film, der aus Sicht des Regisseurs spürbar eine Mischung aus Langeweile und Gelassenheit bestimmt ist. Die Passion fehlt.
Trotzdem kann man "Chloe" einiges abgewinnen. Der diesjährige Eröffnungsfilm beim Festival von San Sebastián ist ein Thriller aus dem Alltag, mit dem sich der Regisseur von "The Sweet Hereafter" zwar weiter von seinen filmischen Ursprüngen entfernt, sich aber immerhin eine Weile auf den Spuren von Hitchcock bewegt.

Julianne Moore spielt die Ärztin Catherine. Ihren Mann, einen Universitätsprofessor (Liam Neeson) hat sie im Verdacht, fremdzugehen. Um die Treue ihres Mannes zu testen, verpflichtet sie Chloe, ein attraktives Highclass-Callgirl, das ihre Arbeit in den gehobenen Kreisen findet. Wie vorhergesehen lässt sich David tatsächlich verführen ... Ganz witzig ist jetzt Egoyans Ansatz, sich auf Catherine zu konzentrieren, die ihrem Mann nun nicht etwa eine Szene macht, sondern die Affaire weiter finanziert, und sie sich von Chloe in allen Details berichten lässt. Aber bald verliert sie die Kontrolle über das Geschehen – und der Zuschauer das Interesse.

So weit, so sehr erinnert das ans bürgerliche Boulevardtheater aus dem späten 19. Jahrhundert. Das könnte man auch über "Whatever Works" sagen, Woody Allens neuen Film – außer dass dessen Dialoge viel witziger sind. Das Drehbuch schrieb Allen bereits zur Zeit von "Der Stadtneurotiker", aber diese Nachricht hätte er besser unter Verschluss gehalten, dann hätte alles vielleicht unter "Alterswerk" durchgehen können. So aber stößt der misanthropische, kalte Grundzug des Films bitter auf. Was bleibt, ist ein alter Mann, der jedem jungen hübschen Mädchen, das ihm über den Weg läuft, Vorträge über die Vergänglichkeit der Jugend hält – und darüber, warum Beethoven nichts taugt. Das ist ein bisschen zu wenig.

Surfen am Biskaya-Strand

Wellenreiter und Wellenbrecher - das Festival von San Sebastián zeigt große Namen und Franzosen; San Sebastián-Blog, 1. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Das Festival von San Sebastián ist das schönste unter den europäischen "A-Festivals" - weil es das entspannteste unter ihnen ist, und trotzdem ein in jeder Hinsicht hochkarätiges Programm bietet. In manchen Jahren kann man hier mühelos mit dem Programm von Venedig mithalten. 2009, der 57. Ausgabe, dürfte das nicht ganz gelingen, zu stark war dieses Jahr der Wettbewerb am Lido. Aber immerhin laufen im Programm von San Sebastián die neuen Filme von Atom Egoyan, Woody Allen (außer Konkurrenz), Francois Ozon, Christophe Honoré, Bruno Dumont - um nur die bekanntesten Namen aufzuzählen. Auch sonst dreht sich diesmal auffallend viel um Frankreich: Mehrere Filme in den Nebenprogrammen, und die thematische Retrospektive, die unter dem Titel "La ContraOla", also die "Gegenwelle" eine Auswahl von 40 französischen Filmen des letzten Jahrzehnts zusammenfasst. Diese Auswahl ist so disparat, wie extrem hochwertig, und reicht von dezidierten Auteurs wie Claire Denis, Bruno Dumont und Arnaud Desplechin über eigenwillige und grenzgängerische Regisseure wie Gaspard Noé und Leos Carax bis hin zu anspruchsvollen Genreversuchen in den Filmen von Julien Maury oder Robin Campillo. Insgesamt repräsentieren diese Filme übrigens keineswegs den Bruch mit der Nouvelle Vague, sondern ihre Fortsetzung mit anderen Mitteln - oder, wenn man so will: Die Frage, wie sich die Haltung dieses unvergleichlichen Aufbruchs in unseren Tagen fortsetzen ließe, was es bedeuten könnte, sie überhaupt fortzusetzen. Die einzige, die hier aus unerfindlichen Gründen fehlt, ist Agnes Jaoui. Ansonsten aber ist dies eine ungemein interessante Reihe - mit der allein man dieses Festival, surfend zwischen Entdeckungsvergnügen und Wiedersehensfreude, gut zubringen könnte.

Samstag, 12. September 2009

Gemeinsamkeit Orient

We agree to disagree: Der israelische Film "Lebanon", die Iranerin Shirin Neszad und Fatih Akin gewinnen beim Filmfestival von Venedig - Venedig Blog, 16. Folge

Von Rüdiger Suchsland

"Wer sich selbst und andere kennt/ Wird auch hier erkennen:/ Orient und Okzident/ Sind nicht mehr zu trennen." (Goethe: "Westöstlicher Diwan")

Ein Silberner Löwe für den in Deutschland produzierten, im Iran spielenden Film "Women Without Men" von Shirin Neshat, der Juryspreis für Fatih Akin, der Kritikerpreis für Jessica Hausners, auch in Berlin produzierten "Lourdes" - man könnte sagen, dass es diesmal ein deutscher Abend war, als am Lido von Venedig die Preise verliehen wurden. Aber ganz so einfach liegen die Dinge nicht, und die Preise vom Samstag erzählen noch einiges mehr.

"Was für eine feige Jury!" - so Josef Schnelle vom Deutschlandfunk, "Ich finde es auch immer falsch, wenn Preise nach politischen Kriterien vergeben werden." sagte Carlos Gerstenhauer von "BR kinokino". Beide sprachen nur stellvertretend für viele die Enttäuschung ihrer Kollegen aus.

Wenn Jurys sich nicht einigen können, flüchten sie sich in Politik und Unterhaltung. Die Filmkunst bleibt dann zumindest zum Teil auf der Strecke. Genau dieses Bild prägt die Entscheidungen vom Samstagabend: Man tritt weder Samuel Maoz israelischen Wettbewerbsbeitrag "Lebanon" noch Shirin Nesats im Iran spielenden "Women Without Men" zu nahe, wenn man unterstellt, dass es vor allem die hier berührten brennenden politischen Themen - der Nahostkonflikt und die innere Unfreiheit im Gottesstaat Iran - waren, die die Preise für sie motivierten. Und Fatih Akin war, auch das ist deutlich erkennbar, für den Feel-Good-Part zuständig. Gegen alle drei Preise ist an sich wenig zu sagen, aber alle drei sind Kompromisse, oder juryinterne Deals - zu offenkundig fehlt dem Gesamtbild, wie auch den anderen Auszeichnungen am Ende des diesjährigen Wettbewerbs irgendeine innere Linie oder zwingende Gemeinsamkeit - im Gegenteil: Der engagierte, überhitzte, offen politische Traumata berührende "Lebanon" und der ruhige, distanziert erzählte, gewollt stilisierte magische Realismus von "Women Without Men" und schließlich die aus der Hüfte geschossene geniale Albernheit eines Fatih Akin haben aber auch so gar nichts miteinander gemeinsam.
Bzw. gibt es doch eine Gemeinsamkeit. Sie heißt "Orient", genauer "Orientalismus": Laut Edward Said ein eurozentrischer, westlicher Blick auf die Gesellschaften des Vorderen Orients bzw. die arabische Welt, ein heimliches Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Orient.

Mit dem Goldenen Löwen ging der Hauptpreis an Samuel Maoz israelischen Wettbewerbsbeitrag "Lebanon". Eine wichtige Auszeichnung für diesen Film war zumindest erwartet worden. Dass es gleich die allerhöchste werden würde, damit hatten viele nicht gerechnet: Zu schockierend sind die Bilder des Films, zu experimentell wirkt seine Herangehensweise.

Was an den Entscheidungen zumindest verwundert und ärgert: Dass - bis auf Neshat - konsequent alle Filme leer ausgingen, die in irgendeiner Weise filmisches Neuland betraten, künstlerisch kontrovers waren: Für Jessica Hausners "Lourdes" gab es immerhin noch den Preis der Kritikerjury, die drei ästhetisch atemberaubendsten, intellektuell herausfordernsten Wettbewerbs-Filme von Claire Denis, Brillante Mendoza und Vimukhti Jayasundara gingen völlig leer aus - das war dann doch etwas zu wenig Kunst. Oft genug war es umgekehrt, gerade in Venedig: Da war der Wettbewerb eher schwach, die besten Filme in den Nebenreihen, und plötzlich rettete am letzten Tag eine weise Jury mit klugen Entscheidungen das Festival. Diesmal war der Wettbewerb stark, das Publikum allgemein überaus glücklich mit dem Programm - nur die Juryentscheidungen am Ende regten viele auf.

"Und mag die ganze Welt versinken,/ Hafis, mit dir, mit dir allein/ Will ich wetteifern! Lust und Pein/ Sei uns, den Zwillingen, gemein!/ Wie du zu lieben und zu trinken,/ Das soll mein Stolz, mein Leben sein."
Eine kuriose Information am Rand: Der Siegerfilm war sowohl vom Festival von Berlin, wie von dem in Cannes abgelehnt worden - auch im Nachhinein eine richtige Entscheidung. Auch um Fatih Akin gibt es entsprechende Gerüchte in Bezug auf Cannes. Akin selbst allerdings, auch das soll hier nicht verschwiegen werden, legt nachdrücklich Wert auf die Feststellung, er habe den Film der Auswahlkommission von Cannes gar nicht gezeigt.

Goldener Löwe für Claire Denis!

Meine persönlichen Preise in Venedig und allerlei Spekulationen - Venedig Blog, 15. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Wenn ich Bundestrainer wäre... würde Hildebrand im Tor stehen. Und wenn ich die Jury in Venedig wäre, wäre klar, wer heute Abend den Goldenen Löwen gewinnt: Claire Denis und "White Material" natürlich. Vor Brillante Mendoza mit "Lola".
Beides hervorragend, intelligente wie sinnliche Filme. "Lola" ist versteckter klug, subtiler intellektuell. Der Film kommt ganz sachte und beiläufig, wie ein naturalistischer Dickens daher. "White Material" ist komplex und kompliziert, mäandernd und verwoben, wie so oft bei Claire Denis. Darum liebt man sie. Ein Puzzle, dessen Bedeutung, dessen Gesamtbild sich erst mit der Zeit entfalten. Denis' Film ist ganz offen genial, offen intellektuell - was natürlich anti-intellektuelle Reflexe auslöst. Kaum zu glauben, dass dieser Film eine Mehrheit der Jury gewinnen könnte.

Hier meine persönlichen Preise:

Golden Lion for best film
Claire Denis für "White Material"

Silver Lion for best director
Brilante Mendoza für "Lola"

Special Jury Prize
Jessica Hausner für "Lourdes"

Coppa Volpi for Best Actor
Sergio Castellito

Coppa Volpi for Best Actress
Das vierköpfige Hauptdarstellerinnen-Ensemble von "Women Without Men".

"Osella" for Best Technical Contribution
Martin Gschlacht für die Kamera in "Lourdes" und "Women Without Men"

"Osella" for Best Screenplay
Todd Solondz für "Life After Wartime"


Aber wer gewinnt wirklich?

"Wir hoffen auf das Beste und bereiten uns auf das Schlechtete vor." sagt Philipp vom Weltvertrieb "Match Factory", die mit "Soul Kitchen" und "Lola" im Wettbewerb vertreten sind.

Keine Frage, dass "Lourdes" und "Libanon" unter den Kritikern hoch gehandelt werden. Im italienischen Kritikerspiegel führt überraschenderweise "Life After Wartime". Aber wer da vorn liegt, gewinnt am Ende nie. Hinter Solondz dann Moore, Akin und "Lebanon." Abwarten.

Eigentlich gewinnt auf Festivals nicht wirklich große Kinokunst. Preise wie der für "Elephant" 2003 in Cannes sind die absolute Ausnahme. Eigentlich gewinnt immer ein Film, der eine klare Geschichte hat, und dessen Geschichte sich in zwei Sätzen erzählen läßt. Ein Film, der grundsätzlich human ist, bis zur political correctness, vielleicht auch etwas sentimental, nicht zu schrecklich und boshaft und provozierend. Ein Film, der politisch brisant oder besser noch "bedeutend" ist.

Das deutet auf "Lebanon" von Samuel Maoz hin, es sei denn, der ist der Jury doch zu schmutzig und hart. Vielleicht noch Brillante Mendozas "Lola", es sei denn, der ist der Jury dann doch zu wenig plakativ politisch.
Das spricht gegen Todd Solondz für "Life After Wartime" und "Lourdes" von Jessica Hausner. Aber "Lourdes" hat bereits zwei Preise gewonnen: Den Preis der Internationalen Filmkritik "fipresci" und den Preis der "Signis"-Jury, der Kirchen. Letzterer war bei dem Thema wohl unvermeidlich.

Ein Preis für Shirin Neshats "Women Without Men" würde mich eigentlich überraschen. Es gibt viel Respekt für den Film, aber keine Liebe. Und der Rest, auch Akin, auch Herzog: Ferner liefen...

Philippinische Gerechtigkeit

The Philippines according to Grandma: "Lola" von Brillante Mendoza - Venedig Blog, 14. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Manila, die Hauptstadt der Philippinen ist der Schauplatz. Es regnet permanent, ein starker Wind pfeift, und beides wird in diesem Film kaum je aufhören. Eine alte Frau geht mit einem kleinen Jungen durch die Stadt. Zuerst in eine Kirche. Dann, wieder draußen, versuchen sie eine Gedenkkerze anzuzünden. Im Wind und Regen ist das ein schweres Unterfangen. Jay-Jay, der kleine Junge, der den Schirm schützend gegen den Wind halten soll, stellt sich dabei nicht gerade geschickt an. Minutenlang dauert es, mit der Geduld eines Bresson präzise eingefangen von der Handkamera. Dieser Anfang schon zeigt die ganze Meisterschaft des Regisseurs Brillante Mendoza. Die Kamera zittert selbst leicht, macht dadurch die Anstrengung, die Nervosität, die in dem an sich banalen Vorgang liegt, spürbar, und baut beiläufig jene Atmosphäre auf, die den Film prägt. Menschen in Not, Menschen die schwach sind, Anstrengung, die in jeder der langsamen und umständlichen Bewegungen der alten Frau enthalten ist, genau wie die Energie die diese Alte mit ihren vermutlich über 80 Jahren noch hat. Nichts passiert, werden manche sagen, alles passiert, erkennt man, wenn man hinguckt.

An den Mauern sieht man Graffiti, die man nicht lesen lann, man hört den Lärm der Großstadt im Hintergrund, man sieht Regen, spürt die Feuchtigkeit, die Kälte des Windes. Natürlich liegt ein großer Reiz der Filme Brillante Mendozas, nicht der einzige und auch nicht der wichtigste, darin, dass man in ihnen sehen kann, wie es eigentlich aussieht auf den Philippinen, ahnen kann, wie es sich vermutlich anfühlt, hier zu leben. Man glaubt Manila zu riechen, zu schmecken, man glaubt selbst dort zu sein.

Weiter bewegen sich die Alte und der Kleine in real time, die reale Langsamkeit ist, durch die Stadt. Nur wenige Filmminuten sind vergangen, und wir sind ganz drin. Sie nehmen einen öffentlichen Kleinbus. Wir hören, was die Leute im Bus so reden. Eine Frau spricht am Cellphone über ein bevorstehendes Job-Interview. Der Wagen fährt weiter. Plötzlich eine schnelle Bewegung, kaum begreift man, was geschieht, die Frau schreit, ein Mann stürzt aus dem Wagen, zwei, drei andere hinterher, "my bag, my bag" - ein Taschendieb hat ihr Tasche und Mobiltelefon entrissen. Vor zwei Jahren hat Mendoza mit "Tirador" (seinerzeit im Berlinale-Forum) die Welt der Taschendiebe dargestellt, jetzt zeigt er die andere Seite. Dass hier immer alles passieren kann, darauf hat er die Zuschauer hiermit auch vorbereitet.

Die Kamera drängt mit aus dem Bus, streift im Vorübergehen, wie die Alte den Kleinen schützend festhält, geht auf den Taschendieb, zeigt, wie Passanten ihn zusammenschlagen. Spontane Selbstjustiz der Straße. Angst in seinem Blick, Wut in den Augen der anderen. Dann geht es weiter, wir bleiben an der Seite der alten Frau.

Die Bedeutung dieser überaus clever eingebauten Episode, die keineswegs so beiläufig ist, wie sie scheint, zeigt sich erst später. Im Rückblick entpuppt sich alles als listige Reflexion von Gerechtigkeit, und als Verdoppelung des Ereignisses, das die Geschichte dieses Films überhaupt ausgelöst hat - wie wir aber erst gleich erfahren.

Jetzt sind die Alte und der Kleine bei einem Sarghändler. Eine andere Frau, die die Enkelin der Alten ist, und die Mutter von Jay-Jay, ist hinzu gekommen. Der Sarghändler führt die verschiedenen Modelle vor: Die Preise nehmen ab, die Sargmodelle sehen sich zum Verwechseln ähnlich. 14.000 Pesos, 12.000, 10.000, "Beerdigung inbegriffen" sagt der Händler, "das ist zu teuer für uns" sagt die Enkelin, man landet bei 8.000 Pesos, 117 Euro.

Die Alte geht, von der Kamera verfolgt, in einen anderen Raum. Dort liegt eine Leiche. Wer ist gestorben? Jetzt erfahren wir's: Ihr Enkel. Sie wischt sich eun paar Tränen vom Gesicht, holt ihren Urenkel ein, der auf die Straße gelaufen ist. Dann geht es zur Arbeitsstelle des Enkels, ein Sicherheitsunternehmen, "Condolences" sagt eine Frau, dann zur Polizei, immer noch im Regen, immer noch mit dem Urenkel an der Hand. Bei der Polizei erfährt man mehr über den Todesfall: "His Cellphone was snatched ... he was stabbed on the bridge...", der Mörder sei bereits gefunden. Als die Alte das Gebäude verläßt, kreuzt sich ihr Weg mit dem einer anderen alten Frau. Jetzt folgt die Kamera ihr, und bald begreifen wir: Die zweite Alte ist die Großmutter des Mörders.

"Lola", der Filmtitel heißt "Großmutter" auf Tagalong. Lola Sepa ist die Großmutter des Opfers, Lola Puring die des Täters. Jetzt hört der konsequente Realzeitansatz auf, obwohl Mendoza immer wieder zu ihm zurückkehrt, aber die Zeitsprünge werden größer. Man sieht die Familie, die Beerdigung wird geplant, Lola Sepa lehnt ein Trauerbuch ab - "we don't need that, we don't have enough visitors to sign that." -, und es fällt einem ein, dass es eigentlich immer um Familien geht in Mendozas Filmen. Trotz des Mordes herrscht unter den Familienangehörigen keine Trauer, sondern eher eine gewisse Heiterkeit. Die Alte hat weitere Behördengänge zu erledigen, und der Film zeigt, wie Menschen hier als Spielmaterial hin und hergeschoben werden.

Es kommt zum ersten Gerichtshearing. Beide Großmütter begegnen sich, die Kamera zeigt, wie Lola Sepa verzweifelt eine Toilette sucht, nicht findet, und verzweifelt im Gang steht, während Urin an ihren Beinen herunterrinnt. Lola Puring, die ihrem Enkel helfen will erhält den Rat: "My advice is to settle it amicable". Dieser Verzicht auf öffentliche Anklage im Fall einer Einigung der Familien ist in den Philippinen offenbar selbst bei Mord möglich, vermutlich, weil die Gefängnisse überfüllt sind, und die Regierung denkt, dass dann das Geld immerhin zu etwas gut ist, und dass der Täter der öffentlichen Kasse nicht zur Last fällt.

Im Folgenden parallelisiert der Film unter ständigen Perspektivwechseln die beiden Großmütter, beide aus der Armenschicht, sie haben mehr gemeinsam, als sie trennt. Das gilt besonders für den Alltag. Denn die alten Frauen werden nicht verklärt. Mendoza zeigt, wie Lola Puring ihre Kunden betrügt, wie auch hier wieder Korruption - DAS große Thema unter den Festivalfilmen - herrscht. Alle betrügen alle. Man versteht das auch. Denn Not kennt kein Gebot. So erklärt Lola Puring bei Verwandten, der Enkel sei im Hospital, sei durch Stichwunde verletzt. Sie will Geld erbetteln, bekommt aber nur Naturalien geschenkt: Zwei lebende Enten - eine herrliche Szene, diese Entenjagd mit den Händen in den Wiesen der Suburbs, kurze Idylle - Kartoffeln, Eier. Gegenüber der Familie geht es um Anstand, aber sobald man unter sich ist, geht es nur ums Geld. Noch am Bahnhof verkauft die Großmutter die Geschenke.

"Lola" zeigt so die Erosion der Family-Values, gerade dort, wo sie ein bisschen noch funktionieren. Etwa in der Gleichgültigkeit des Bruders des Angeklagten: "He deserved it". Der hätte den Bruder nie aus dem Knast geholt. Zugleich zeigt der Film noch, dass zumindest die Macht des Matriarchats und der Alten in diesen Familien noch funktioniert. Die alten Mütter entscheiden.

Am Ende, wie vorauszusehen, treffen sie sich, handeln einen Preis aus. Dabei reden die Alten über ihre Athritis. Man sollte wenig Kohl essen. Über Männer: "Men are really a pain in the neck". 50.000 Pesos war das Leben des Enkels wert. Umgerechnet 731 Euro. Ganz schön viel Geld für beide Alte, aber das Geld ist dann gleich auch schon wieder weg.

Ein großartiger Film aus dem Dickicht von Manila. "Lola" zeigt das System, zeigt Gerechtigkeit in den Philippinen, zeigt die Menschen in diesem sozialen Räderwerk. Und darum herum zeigt er viele kleine feine genaue Beobachtungen. Wie das amerikanische Filmteam im Zug, das das Elend aufnimmt. Nimmt "Slo-Mo" sagt der Regisseur...

Ein toller Film! Wenn es mit rechten Dingen zugeht, wird "Lola" dafür mit einem Hauptpreis in Venedig belohnt.

Absurde Komödie

Soderberghs "The Informant" - Venedig Blog, 13. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Steven Soderberghs "The Informant" ist sozusagen das leichte, liberale, coole Spielfilmgegenstück zu Michael Moores Film über Kapitalismus: Innenansichten aus der US-Business-Welt. Der Film ist eine witzige Komödie über Menschen mit feinen Anzügen, großen Wagen und kleinen Gedanken. Wieder mal auf wahre Ereignisse zurückgehend und "based on the book 'The Informant (A True Story)' by Kurt Eichenwald" spielt Matt Damon einen Mann, der in den 90er Jahren einerseits das FBI über unsaubere Machenschaften seiner Firma informierte - dabei aber selbst nicht sauber blieb und so irgendwann zwischen allen Stühlen saß. Finanzwelt als absurde menschliche Komödie und eine sehr unterhaltsame Hochstaplergeschichte.

Auch stilistisch wirkt das wie das realistischere Pendant zu Soderberghs "Ocean's"-Filmen: Old-School-Nostalgie in Musik und Bildern, und schon in den ersten Minuten der Anfangscredits, als man nur ein altmodisches Tonbandgerät sieht, wirkt alles mehr 60er als 90er-Jahre, spielt aber 1992 ff.

Eine Komödie über einen Narr, der auf Michael-Crichton-Bücher steht, über das schöne Leben mit vier Porsches in der Garage, über einen notorischen Lügner - sehr gut geschrieben, sehr witzig, aber alles in allem ein irgendwie blasser Film, zu dem mir nicht viel einfällt, und bei dem ich damit auch kein schlechtes Gewissen habe.

Erste Preise in Venedig

Goldene Aale für Makhmalbaf, Knuchel, Castellitto - Venedig Blog, 12. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Der "Gran Premio Bisato D'Oro" (in etwa: "Der goldene Aal") dürfte der einzige Preis auf einem Filmfestival sein, der von einer Kneipe vergeben wird. Aber das Ecklokal "Bar Maleti" an der Gran Viale Santa Elisabetta auf dem Lido von Venedig, etwa zehn Fahrradminuten vom Festivalgelände entfernt, ist ein besonderer Ort. Da es hier weder Partys, noch so etwas wie ein Festivalzentrum gibt, hat sich das "Maleti" in den letzten Jahren vom Geheimtip des Lieblingslokals unseres Freundes und Kollegen Josef Schnelle zum Nachkino-Treffpunkt eines Großteils derjenigen, unter den "wichtigeren" Kollegen aus Europa gemausert, die nicht gern früh ins Bett gehen, und auch nach Ende des letzten Films so gegen 2 Uhr nachts noch ein Bier und ein Sandwich bekommen möchten. Vor allem Kritiker aus Spanien, Österreich, Osteuropa, Deutschland und natürlich Italien treffen sich hier, und reden, streiten, versöhnen sich Abend für Abend über die Filme des Festivals.
Vor drei Jahren gründeten der Kritiker Ugo Brusaparco und Barbesitzer Claudio Maleti einen Preis, den "Gran Premio Bisato D'Oro della critica independente", der seitdem so etwas wie der "Unabhängige Kritikerpreis" von Venedig ist. Als Trophäe gibt es immerhin einen goldgelben Aal aus Murano-Glas und gefeiert wird zur Preisvergabe mit reichlich Prosecco, Käse, Schinken - und natürlich Aal.

In diesem Jahr ging der "Gran Premio Bisato D'Oro" an die iranische Regisseurin Hana Makhmalbaf für ihren an dieser Stelle schon mehrfach erwähnten Film "Green Days", sowie an den italienischen Darsteller Sergio Castellitto für seinen tatsächlich eindrucksvollen Auftritt in Jacques Rivettes ansonsten eher blassem "36 vues du Pic Saint Loup". Und an den Regisseur Stefano Knuchel für den eindrucksvollen "Hugo en Afrique" eine Meditation über den "Corto Maltrese"-Erfinder Hugo Pratt.

Alle Preisträger kamen zur Preisverlehung, drei Fernsehteams und zahlreiche Kritikerkollegen waren auch da - man mag sich einen Moment verwundert die Augen reiben, aber wenn man es richtig anstellt, kann eben auch aus einer Schnapsidee was Gutes werden. Und zumindest für Hana Makhmalbaf, die hier außer Konkurrenz auftritt, vom Festival in einem überraschend schäbigen Hotel einquartiert wurde - man wundert sich manchmal, und kann nur hoffen, es waren wirklich keine Zimmer mehr frei - und nach "Green Days" nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren kann, mag diese ehrliche, verdiente Anerkennung Gold wert sein.

"Achmadinedschad hat das iranische Volk in Geiselhaft genommen!"

Die iranische Filmemacherin Hana Makhmalbaf über das Regime in Teheran - Venedig Blog, 11. Folge

Von Rüdiger Suchsland

"Wir Iraner sind alle Geiseln des Regimes, Achmadinedschad hat das iranische Volk in Geiselhaft genommen!" - mit deutlichen Worten wandte sich die iranische Filmemacherin Hana Makhmalbaf gegen das Regime in ihrer Heimat. Auf der offiziellen Pressekonferenz des Filmfestivals von Venedig zur Premiere ihres Films "Green Days", einem Dokudrama über die Wochen vor und nach den iranischen Präsidentschaftswahlen im Juni, sagte Makhmalbaf, erst 21 Jahre alt und jüngste Tochter des bekannten iranischen Regisseurs Mohsen Makhmalbaf: "Nach der Wahl hat sich unser Leben radikal verändert. Ich betrachte mich selbst als Geisel."

Ein Staatsstreich habe sich im Juni ereignet. Makhmalbaf spricht von den Herrschenden als von einem "faschistischen Regime". Hitler sei besiegt worden, wie Diktatoren in der Geschichte immer früher oder später besiegt werden. "Uns wird es nicht anders gehen. Wir sind durch Gewehre gestoppt worden. Aber auf die Dauer kann man 70 Millionen nicht mit Gewehren stoppen."

Ihre Botschaft für die Menschen im Westen: "Sie alle im Westen sollten nicht dem Irrtum erliegen, Achmadinedschad repräsentiere in irgendeiner Weise die Menschen im Iran."

Apocalypse Now bei den Wikingern

"Valhalla Rising" von Nicolas Winding Refn und John Hillcoats "The Road" - Venedig Blog, 10. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Es kann hier jederzeit alles passieren. Und das über einen Film sagen zu können, ist doch schon mal eine ganze Menge.
Am Anfang, wenn man noch gar nicht weiß, worauf dieser Film hinausläuft, ist da die totale Ungewissheit. Als erstes sieht man auf schwarzem Grund ein Insert: "In the beginning, there was only man and nature". Im Laufe des Films dann fragt man sich irgendwann, ob dieser Film womöglich auch die Sehnsucht danach artikuliert? Die nach der Einfachheit oder nach dem Anfang? "Then men came bearing crosses and drove the heathen to the ends of the earth."

Der Film ist in Kapitel unterteilt, es werden sechs werden, aber das weiß man zunächst noch nicht. Das erste heißt "Wrath", "Zorn".
Die Welt ist Grau, Schwarz, ein wenig Grün, sie besteht vor allem aus Schlamm und Matsch. Eine Berglandschaft, in der es sich schwer leben läßt. Alles ist hässlich und dreckig. Hier begegnen wir einer schweigenden Männergesellschaft, die sich mit brutalen Kämpfen von Gladiatoren-Sklaven amüsiert, Wetten auf den Ausgang abschließt. Ein Catchen auf Leben und Tod, fast wortlos, die Tonspur konzentriert sich ganz auf das Pfeifen des Windes, und auf das Schlagen und Krachen der Knochen aufeinander. Gelegentliche Splattereffekte. Auch an "The Wrestler" muss man kurz denken, der hier vor einem Jahr in Venedig gewann. Die Landschaft sorgt für einen Hauch von "Highlander". Und der Film ist spürbar mit dieser Männerwelt einverstanden. Er beobachtet sie von Außen, aber mit Faszination und Sympathie. Es sind Verhältnisse, die wir, ereigneten sie sich in unserer Zeit, als faschistisch verabscheuen würden. Angesiedelt in historischen Frühzeiten blickt der Film aber, und wir mit ihm, freundlich, neugierig und voll undefinierter Ehrfurcht auf diese Zeit, als Männer noch Männer waren. John Milius läßt grüßen.

Die Catch-Kämpfer verbringen ihren Tag angekettet in Holzkäfigen. Der beste, erfolgreichste, also gefährlichste von ihnen wird von Mads Mikkelsen gespielt. Sein eines Auge ist tot und zugewachsen, so ähnlich wie das Auge von Kirk Douglas in Richard Fleischers "The Vikings". Ein kleiner Junge versorgt ihn.
Dann eines Tages, und man hat es geahnt, bricht er aus, nur drei Schläge mit der Axt sind nötig, und die Hilfe des Jungen. Zuvor hatte man noch die Prophezeiung seines Herren gehört, der ihn wie ein Tier gehalten hatte: "Those driven by hate, will survive".

Im zweiten Kapitel, "Silent Warrior", treffen die zwei, die schweigend durchs Hochland wandern, auf eine andere Gruppe. Von den "weißen Christen des Nordens" war einmal die Rede gewesen, um sie handelt es sich wohl. Und sie sprechen Englisch, bald haben wir verstanden, dass der Film im Norden der britischen Insel spielt. Die Christen reden vom Leiden und vom "neuen Jerusalem", das sie erobern wollen. Ihr König sagt: "We are more than flesh and blood. You should consider your soul." Der Kämpfer schweigt noch immer. Nichts kommt aus seinem Mund, und bis zum Ende dieses Films wird Mads Mikkelsen nicht ein Wort gesagt haben. Der blonde Junge spricht für "One Eye", wie sie ihn jetzt nennen. Er ist seine Stimme, aber auch seine ausgelagerte soziale Seite. Die Nabelschnur, die diesen Einzelgänger noch mit seinen Mitmenschen verbindet.

Im dritten und vierten Teil - "Men of God" und "The Holy Land" segelt eine Gruppe von kaum einem Dutzend Krieger in Richtung auf das nicht näher definierte Land. Der Film zeigt so gesehen die Wahrheit über die Kreuzritter, die hier nur als Wahnsinn erscheinen kann. Die Überfahrt ist lang und schwer. Am Ende ist das heilige Land erreicht, eine irreale, fantastische Welt. Mehr und mehr verliert sich die Reise im Nichts. Es gibt Tote, zum Wahnsinn der Religion kommt noch anderes hinzu: Mord, Totschlag, Vergewaltigung untereinander, aber auch Morde von Außen, durch die Einheimischen, die sich als Indianer entpuppen. "Hell" und "The Sacrifice" heißen die letzten zwei Kapitel, die die Auflösung der Verhältnisse, das Weltende vollenden.
Kollege Josef Schnelle sieht den Film als kulturhistorisches Dokument. Auf der Ebene interessiert er mich eher gar nicht. Aber als was? Er fühlt sich gut an, soviel ist sicher. Trotzdem kann man sich hier wahnsinnig langweilen. Man kann sagen, der Mann, One Eye, hat seinen Tod gesehen und gesucht. Man kann feststellen, dass hier der Regisseur jede Idee von Heroismus dekonstruiert, und dieses Unterfangen so weit treibt, dass es in Schlachten und Amok endet, vielleicht zu weit treibt. Man kann den Film psychodelisch nehmen, als "Apocalypse Now" bei den Wikingern. In jedem Fall ist dem Dänen Nicolas Winding Refn ("Pusher"-Trilogie) mit "Valhalla Rising" ein besonderer Film gelungen, den man nicht so schnell vergisst.

Das Pendant dazu, gewissermaßen das andere Ende der Zivilisation, liefert der Australier John Hillcoats "The Road"/"Die Straße", eine Verfilmung des vielfach ausgezeichneten gleichnamigen Romans von Cormac McCarthy: Ein Vater und sein Sohn gehen auf einer Straße. Ohne Nahrung. Ohne Wasser. Leichen liegen am Weg. Die Welt in diesem unorthodoxen Science-Fiction-Film ist grau und tot, eine öde Mondlandschaft - irgendwann nach einer nicht weiter definierten Katastrophe. Ein hoch-pessimistisches, tieftrauriges Szenario. Schrecklich und darin schön, aber doch nicht wirklich gelungen.

Donnerstag, 10. September 2009

Grüne Tage, schwarze Nächte

Filmen gegen Ohnmacht und Wut: Hana Makhmalbafs Film über Wahlkampf und Juni-Unruhen im Iran. Venedig Blog, 9. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Es gibt Filme, bei denen überwältigt der Inhalt alles andere. Es gibt auch Filme, die sieht man im Kino und spürt, wie die eigenen Gefühle den Eindruck dominieren, wie man sich als Zuschauer den Emotionen derjenigen annähert, die die Filme gemacht haben. "Green Days" von der erst 21-jährigen Regisseurin Hana Makhmalbaf ist so ein Film.

Es beginnt mit einem fast völlig schwarzen Bild. Das Unsichtbare, das Nichts. Im Hintergrund der Ruf des Muezzins. Eine weibliche Stimme sagt auf Farsi: "The Sound of Allahu Akhbar is louder than ever. I am trembling. Is god trembling as well?"
Und wenn Gott tatsächlich zittern sollte, zittert er dann vor Angst oder vor Wut?

Makhmalbaf, das jüngste von drei Kindern des renommierten iranischen Regisseurs Mohsen Makhmalbaf, der seit Jahren im Pariser Exil lebt, hat ihren Film, ein Dokuessay, der Reportage mit Spielszenen mischt, kurz vor den iranischen Präsidentschaftswahlen begonnen. Sie konnte also nicht wissen, was passieren würde.

Gerade in dieser Ungewißheit, die in vielen Aufnahmen spürbar ist, kommt der Film aber zu sich selbst - und damit auch das Kino. "Green Days" ist somit ein gar nicht so häufiges Dokument für die vielleicht größte Qualität des Kinos: Sein Vermögen, zu zeigen, was ist. Der Film lebt von seiner Spontaneität, vom Zeigen des reinen Augenblicks, auch in seiner flirrenden Offenheit.

So sieht man hier eine Wahlkampfveranstaltung des späteren Wahlsiegers Mussawi, in der die vorrevolutionäre Stimmung schon spürbar ist. Alles in Grün. "Election Day will be our Day of Freedom." sagt Khatami. "To vote is our culture!" skandiert die Masse. So hört man Diskussionen von Anhängern beider Hauptkandidaten zu. Auch Ahmadinedschad-Anhänger kommen zu Wort. "People need a dictator" sagen sie. Die anderen: "Der verarscht die Analphabeten." "Wo sind die Lehrer, die er uns versprochen hat?" Die Lehrer fehlen auch bei uns.
Man sieht viel Begeisterung, schöne Frechheit: "Go to sleep nuclear dictator!" Und viel Frust und Indifferenz. Ein Soldat berichtet, wie ihr Kommandeur sie zwingt, für Ahmadinedschad zu stimmen.

Dann der Einbruch der Gewalt. Zehn Polizisten dreschen mit Knüppeln auf einen Mann ein. Blut, Schüsse, Neda. Schwer vorstellbare Zustände.
Ein wenig sieht man noch von der Manipulation und der gewaltsamen Unterdrückung der Proteste. Makhmalbaf mischt eigene Bilder mit denen von zahllosen Handkameras. Aber "Green Days" ist mehr eine Zustandsbeschreibung. "It was not a political defeat. It was an emotional defeat!"
Der Film ist ein Zeugnis ohnmächtiger Wut, ist alles, was Kino auch sein kann, auch ist, auch sein muss. Somit das ganz großartige, ungemein spannende Dokument eines historischen Moments, aber auch der Wut und der Trauer der Iraner.

Zugleich überwiegt alles am Ende noch ein zweiter Eindruck: Wir wissen nichts vom Iran, wie es da wirklich zugeht, aussieht. Wir wissen nichts.

Pippi Langstrumpf auf Acid

Zuviel Erdbeeren: Die Künstlerin Pippilotti Rist hat einen Film gemacht. Venedig Blog, 8. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Pippi Langstrumpf auf Acid, das kommt dem Eindruck dieses Films noch am nächsten. Die Künstlerin Pippilotti Rist hat einen Film gemacht. Der sieht aus, wie ihr sonstiges Werk, also wie der Kindergarten, in den wir damals gern gegangen wären. "Pepperminta" ist quietschbunt, virtuos und sehr ungewöhnlich, schnell geschnitten, das Wort "Popästhetik" darf benutzt werden. Den tollen Bildern stehen leider schrottige Texte gegenüber - dominiert von Schülertheater-Witz und Esoterik, mit der banalen Botschaft: Seid nett zueinander und passt euch nicht an.

Die Titelheldin ist eine Nonkonformistin, was sympathisch ist. Aber der Anarchismus, der diesen Film durchdringt, wirkt dann doch ein bisschen arg naiv: Ein Mädchen steigt auf Briefkästen und lacht. Dann kommt ein Uniformierter, und sagt: "Wenn das jeder machen würde." Dabei rollt er mit den Augen. Das Mädchen antwortet: "Dann müsste es viel mehr Briefkästen geben." Haha!Ansonsten essen hier alle zuviel Erdbeeren, bekommen Jungs hier Matrosenanzüge angezogen, und Mädchen sammeln Menstruationsblut im Kelch und trinken es dann irgendwann. "Rot ist gut" heißt es dazu. Schon, ja. Aber nicht immer.

Obama & Me

Bilder aus der Sklavenhaltergesellschaft: Michael Moores neuer Film "Capitalism: A Love Story" und ein Hauch von Caesarenwahn - Venedig Blog, 7. Folge,

Von Rüdiger Suchsland

Finanzkrise für Zwölfjährige: Ein düsteres Untergangsszenario über Geschichte und Gegenwart der Finanzwirtschaft, insbesondere über die Bankenkrise 2008, ihre Hintergründe und einen "versteckten Staatsstreich" bei den Versuchen ihrer Lösung. Die brisantesten Informationen sind dabei, wie immer bei Michael Moore, gut versteckt: Mehr als alles andere verblüfft die Erinnerung daran, dass zwischen 1936 und 1981, zu Zeiten des größten Wohlstands der USA in den 50er Jahren, höhere Einkommen mit niemals weniger als 70, zum Teil mit bis zu 94 Prozent besteuert wurden!

Spoiler: Michael Moore ist gegen Kapitalismus! Wow!! Die Nachricht des Tages!!! Da hat uns der amerikanische Linkspopulist, der zumindest äußerlich eher so aussieht, wie im Kino der Weimarer Republik noch die Kapitalisten, aber ganz schön reingelegt. Heißt sein neuester Film, der gerade bei den Filmfestspielen von Venedig Premiere hatte, doch: "Capitalism: A Love Story". Es kann sich aber nur um eine bitter enttäuschte Liebe handeln. Denn so hell wie das Blitzlichtgewitter bei der Premiere, so dunkel ist der Film.

Nachdem ein lustiger Vorspann kurze Überwachungskamerafilmchen aneinanderreiht, die von Banküberfällen aufgenommen wurden, beginnt Moore mit Bildern aus Hollywood-Sandalenfilmen: Das alte Rom, warum ging es unter? lautet seine traditionsreiche Frage. Vom Sklavenhalterstaat ist die Rede, vom Caesarenwahn, von Dekadenz - die Parallele zu Bush meint Moore trotzdem noch in Form von parallel geschnittenen Bildern aussprechen zu müssen, damit auch alle verstehen.

"Capitalism: A Love Story" ist grundsätzlich ein düsteres Untergangsszenario, in dem Moore in gewohnter Weise völlig unzusammenhängende, aber interessante Fakten zu seinem Thema, durcheinander mischt, mit zum Teil altbekannten, zum Teil wirklich ganz originellen Thesen und Einfällen mischt, wie man das ganze Elend ändern könnte. Um dann Grassroots- und Bürgeraufstandsoptimismus zur Lösung aller Probleme zu erklären. Einmal gelingt Moore damit das Paradox, ein inhaltlich eher depressives Bild zu zeigen - das aber im gut gelaunten Tonfall eines Propagandafilms, und verbunden mit der Aufforderung zur Revolution.

Erster Akt: Phänomenologie des Kapitalismus in seinen Folgen

Um sein Panorama zu illustrieren, häuft Moore diverse Beispiele für den Untergang der US-Wirtschaft und die schleichende Enteignung der Bürger auf: Er zeigt Menschen, die aus ihren Häusern vertrieben werden, Folge überhöhter Verschuldung. Für die sind in Moores Film immer nur diejenigen verantwortlich, die die Kredite vergeben, nie die, die sie nehmen. Natürlich sind überhöhte Zinsen unmoralisch, versteckte Zinsen womöglich ein Verbrechen, auch wenn sie über das Kleingedruckte juristisch legal sind. Aber haben Menschen, die sich überschulden, die hundertausende Dollars leihen und ausgeben, obwohl sie im Monat allenfalls ein paar hundert Dollar zurückzahlen können, in keiner Weise Mitschuld an ihrer Lage? Moore scheint das nicht zu denken, aber er argumentiert auch nicht dagegen, er wirft diese Frage überhaupt nicht auf. Und das nervt, nicht zuletzt weil er mit solch' einer simplifiziernden Herangehensweise das viele, was an seinem Film wichtig, gut, und interessant ist, schwächt.
Moore zeigt Leute die klagen: "There is no in between - people who have it all and people who have got nothing." Das stimmt, wird aber auch nicht durch Diskurse über Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich vertieft. Außerdem ist er manipulativ in seiner billigen Sentimentalität.
Moore zeigt ein privatisiertes Jugendgefängnis, das in erster Linie für seine Eigner ein Business ist, weshalb man den örtlichen Richter geschmiert hat, um möglichst viel Nachschub für die Zellen zu beschaffen. Das Ereignis ist zwar aufgeklärt und der Richter längst bestraft - aber dies sei kein Einzelfall, suggeriert Moore zwar einleuchtend aber völlig ohne Beweise.
Moore zeigt Flugzeugabstürze und überschuldete Piloten. Moore zeigt, wie Unternehmen Lebensversicherungen auf ihre Angestellten abschließen, die dann ihnen zugute kommen. Mit dem Tod ihrer Angestellten verdienen die Firmen dadurch mehr Geld als sie mit ihrer Arbeit verdienen. Diese Phänomenologie des Kapitalismus in seinen Folgen bildet sozusagen den ersten Akt des Films.

Zweiter Akt: Die schönen Fünfziger

Der zweite Akt ist eine märchenhafte Reise zurück in die Geschichte. In den fünfziger Jahren als Moores Vater noch bei General Motors arbeitete und Klein-Michael Priester werden wollte, da war alles schön und gut in Amerika. Beethoven 9te Symphonie, vierter Satz, aber nicht "Freude schöner Götterfunken", sondern die Passagen davor, untermalen die Bilder von einer rundum glücklichen Konsumgesellschaft zu Eisenhower-Zeiten. Die Menschen hatten eine sichere Arbeit, vier Wochen bezahlten Urlaub im Jahr, und nur einen Geldverdiener pro Familie, aber viele Kinder.

Moore hätte es gar nicht nötig, hier ein derart heiteres Bild zu malen, in dem weder McCarthy vorkommen, noch der Kalte Krieg, geschweige denn der heiße in Korea, in dem Vietnam und andere unschöne Dinge nur ganz am Rande gestreift werden. Denn diese Passage enthält die vielleicht brisanteste Information des ganzen Films: Zwischen 1936 und 1981, zu Zeiten des größten Wohlstands der USA lag die Steuer auf höhere Einkommen (Income-Tax) mit niemals weniger als 70, zum Teil mit bis zu 94 Prozent im Vergleich zur Gegenwart extrem hoch. Kein Wunder, dass der Staat genug Geld hatte und Wohlstand für alle versprechen konnte.

Der Widerspruch der in diesem heiteren Bild liegt, bleibt leider ausgespart: Will Moore denn in die 50er Jahre zurück? Es gab ja auch Bedingungen für diese schöne heitere Flintstone-Idylle: Ausbeutung, Kolonialismus, Imperialismus, Kalter Krieg. Auch hier ist der Film dümmer, als er sein müsste. Und sollte.

Dann wird Beethoven durch Orffs "Carmina Burana" abgelöst, eine Musik, die vorzugsweise verwendet wird, um Hölle und Weltuntergang zu illustrieren. Auftritt: Ronald Reagan. Der Schurke, der die Steuern senkte. Eine Marionette der Finanzindustrie, ein Knecht in den Händen seines Finanzministers und Stabschefs Don Regan. Hypnosebilder, dazu Hitchcock-Musik von Bernard Herrmann.

In diesem Schwarzweiß-Stil geht es weiter. Immer wieder sieht man irgendwelche bösen Finanzhaie, dann weinen Menschen. Die Citigroup veröffentlicht ihr Papier, in dem sie gegen Demokratie und für einen "plutonomy" und "new aristocracy" wettert. Dann sind die Pfarrer dran. Pfarrer sagen: "Capitalism is a sin!", "Capitalism is evil!", "Capitalism is against the holy books!" Da ist es dann nicht schlimm, die Welt in Gut und Böse zu scheiden.
Natürlich würde Moore jederzeit auch fünf Priester finden, die für den Kapitalismus predigen, Antikapitalismus als Sünde brandmarken, die Börse als Gottesgabe feiern und noch die exakte Bibelstelle nennen könnten, in der Jesus die Einführung von Derivaten fordert.
Dass vielleicht der Abschied vom religiös strukturierten Denken, dass ein Ende des politischen Manichäismus ein Schritt zum Besseren sein könnte, scheint Moore dagegen nie in den Sinn zu kommen. Stattdessen outet sich Moore hier mehr denn je als religiöser Spinner, als einfach nur anders gepolter Cousin von George W. Bush, der in ähnlichen chiliastischen Strukturen einfach nur andere Inhalte verpackt. Ein vormoderner Sektierer.

Widersprechen tut er sich auch: Denn als er ein paar Minuten weiter in seiner Predigt dann auf das Thema Demokratie im Unternehmen zu sprechen kommt, stellt er einen Musterbetrieb in Sachen gleicher Bezahlung vor, um dann zum Fazit zu kommen: "They end up making more money." Geht es also darum? Ist Kapitalismus gut, wenn er nur richtig funktioniert, muss man ihn nur besser machen? Zumindest die Beantwortung dieser Frage sollte man von Moore verlangen dürfen.

Dritter Akt: Die Bankenkrise 2008

Das zentrale Thema ist aber die Bankenkrise 2008. Zu ihrer Bewältigung wurden im Oktober 2008 Gesetze durch den US-Kongreß gepeitscht, durch die der Staat für die Schulden der Wall Street haftbar gemacht wird. Die Demokraten ließen sich dazu breitschlagen. Die Folge: "eine Art versteckter Staatsstreich" lautet Moores Fazit, flankiert von ein paar demokratischen Kongreßabgeordneten.
Moore nennt die Schuldigen, wie Senator Christopher Dodd, erinnert an den "Saving and Loans scandal" der Achtziger, und fragt: Wer wurde reich? Antwort: Robert Rubin, Larry Summers, Timothy F. Geithner. Sämtlich der demokratischen Partei und der Clinton-Administration nahestehend. Sämtlich heute einflußreiche Berater, bzw. im Fall von Geithner Finanzminister der Obama-Regierung. Sämtlich der Goldman-Sachs-Bank nahestehen. Bei Moore ist vom "Government Goldman" die Rede. Robert Rubin war außerdem jahrelang in Diensten der Citigroup - wir erinnern uns: Der Bank der neuen Aristokraten. Als Finanzminister begünstigte Rubin durch Aufhebung des Glass-Steagall Acts die Fusion von Kredit- und Investmentbanken, und ermöglichte damit nicht nur die Gründung der Citigroup, sondern auch die Bankenkrise.
"Government Goldman" - dazu muss man wohl auch noch erwähnen, dass Goldman Sachs der größte Financier der Wahlkampagne Obamas war. Gibt es also auch hier einen großen Puppenspieler? Das fragt Moore einstweilen nicht.

Die Feinde: Manchesterkapitalismus und Neoliberalismus

Stattdessen folgert er, dass Kapitalismus irgendwie unchristlich und unamerikanisch ist, und läuft am Ende des Films in Feelgood-Passagen vor den Banken auf und ab und fragt: "Wo ist unser Geld?"

Konzentriert ist dies zwar alles nun auf Amerika - aber zu Moores Gunsten darf man annehmen, dass das alles nur als Beispiel gemeint ist. Würde Moore mit einer ähnlichen Kombination aus Neugier und Sendungsbewußtsein in Deutschland von Abwrackprämie, Commerzbankeinstieg und Garantien für zahlungsunfähige Unternehmen erzählen, würde er die Politik und die Vernetzungen von Regierungspolitikern untersuchen, dürfte er auch fündig werden. Inhaltlich ist sein Film allerdings kein Angriff auf das Modell des Rheinischen Kapitalismus, für den die Große Koalition steht, sondern auf Manchesterkapitalismus und Neoliberalismus wie er von der FDP verteten wird.

Moore, der im gut gelaunten Unterhaltungstonfall eines Propagandafilms sein depressives Bild mit der kraftvollen frohen Botschaft kombiniert, Wandel sei möglich, war in Venedig der Beifall sicher - Stil und für die breite Masse anstrengende Filmkunst kümmern den amerikanischen Dokustar eher wenig, so richtig auf die Füße getreten wurde hier keinem der Anwesenden, und der Grassroots- und Bürgeraufstandsoptimismus, der im Film die Lösung aller Probleme sein soll, war jedenfalls sympathisch.
Im Interview erzählt Obama dann später, er habe einige Szenen des Films nur für einen einzigen Menschen gemacht... Bedeutungsvolles Schweigen...: für Präsident Obama. Welche Szenen es denn seien? Die über seinen Finanzminister. Die über Goldman-Sachs. Da wird Obama bestimmt was Neues erfahren haben? Mensch, Michael, wenn er das früher gewußt hätte. "Obama und ich"- das ist der heimliche Titel dieses und der kommenden Filme von Michael Moore. Wir dürfen noch auf manches gefasst sein. Und da sind wir dann - Sympathie hin, Argumente her - wieder beim alten Rom, wo Hybris nicht weit weg liegt vom Caesarenwahn.