Montag, 7. September 2009

Der Protest im Iran hat einen kritischen Punkt erreicht

Drei Fragen an Shirin Neshat - Venedig Blog, 5. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Die kommenden Tage beim Filmfestival von Venedig stehen ganz im Zeichen des Iran und der "Grünen Revolution" im Juni. Gleich vier Filme kommen aus dem Iran. Im Wettbewerb hat am Mittwoch "Women without Men" Premiere, der erste Kinofilm der Video-Künstlerin Shirin Neshat, der 1953 in Teheran während des von der CIA orchestrierten Militärputsches spielt. Noch brisanter dürfte "Green Days" von der erst 21-jährigen Hana Makhmalbaf werden. Die Regisseurin, jüngstes Mitglied der im Pariser Exil lebenden bekannten Filmfamilie, hatte während der Unruhen im Juni, der "Grünen Revolution" spontan diesen semidokumentarischen Film gedreht.

In einem Vorgespräch antwortete Shirin Neshat auf einige Fragen zu den Verhältnissen im Iran.

Wie schätzen sie die Juni-Proteste ein?

Neshat: In der islamischen Revolution war es noch um Religion gegangen und um Kommunismus. Hier waren die Jungen auf der Straße, 70 Prozent der Bevölkerung, die die Alten weghaben wollten, die Reform wollen. Es ging nicht um den Islam. Mein Eindruck ist, dass sie begriffen haben, dass es nicht genug ist, die wahren Gefühle in seinem Inneren zu tragen. Man muss sie auch nach außen tragen. Was jetzt in den letzten Monaten geschehen ist: Die Menschen haben verstanden, dass man auf der Straße wirklich etwas erreichen kann. Zu Beginn der Proteste haben viele Leute noch gesagt: Was können wir wirklich erreichen? Aber Studentenproteste waren im Iran immer schon sehr einflussreich. Wie auch die Proteste der Emigranten. Und das funktioniert tatsächlich.
Seitdem ist für uns alle die Frage, wie wir die Balance finden zwischen unserer Arbeit als Künstler und unserer sozialen Verantwortung. Aber es ist klar: Wir haben eine Stimme. Und sie kann zählen. Das ist eine sehr interessante Erfahrung auch für mich.
Ich erinnere mich, wie ich direkt nach dem New Yorker Hungerstreik zum Flughafen fuhr, um in Berlin am Film weiterzuarbeiten. Ich habe geheult, denn ich wollte nicht weg. Ich wollte bei meinen Leuten bleiben. Dieser Sinn für Verbundenheit, für Gemeinschaft, für Solidarität, die einigende Kraft des Widerstands gegen diese Regierung hat eine unglaubliche Bedeutung in unseren Leben im Exil bekommen.

In ihrem Film geht es um vier Frauen, die alle aktiv werden. Bei den Juni-Protesten spielten Frauen eine Schlüsselrolle. Ist dies ein modernes Phänomen? Oder hat es seine Wurzeln in der iranischen Kultur?

Neshat: Nun - was jetzt im Iran passiert, ist eine neue Revolution, ein neuer Feminismus. Wenn man die Bilder der letzten Wochen und Monate anguckt, sieht man gleich viele Frauen wie Männer. Und es ist manchmal unglaublich schockierend, wie tapfer, wie mutig sie sind. Sie wagen sich an Orte, vor denen Männer zurückweichen. Aber es ist auch schockierend, wie schön sie sind. Und wie sie ihre Schönheit benutzen!
Sie nutzen die Kraft ihrer Jugend und ihrer Aggressivität. Aber sie haben es auch satt. Sie sind nicht mehr feige. Denn ihr Leben ist die Hölle. Sie haben nichts zu verlieren. Die nach der islamischen Revolution geborenen sind die unglücklichste Generation der iranischen Geschichte. Alles, was sie kennen, sind düstere Zeiten. Die allgegenwärtige Kontrolle der Pasdaran: Kein Recht auf Filme, auf Musik, Kleidervorschriften… Jeder von ihnen hatte in der einen oder anderen Weise schon mal Ärger mit der Polizei. Alles wurde ihnen weggenommen, jede Form von Freiheit. In meiner Zeit hatten wir zumindest bescheidene Freiheiten. Wenn sie heute ihre Häuser verlassen, dann wissen ihre Mütter nicht, ob sie sie je wiedersehen.

Wollen Sie die Premiere in Venedig auch als politische Plattform nutzen?

Neshat: Wir überlegen uns, was wir in Venedig damit machen. Wir sind alle sehr aktiv. Der Protest im Iran hat jetzt einen kritischen Punkt erreicht: Die Regierung hat die Straße mehr oder weniger wieder unter Kontrolle. Wir müssen jetzt genau überlegen, wie es weitergehen soll. Wir müssen Gelegenheiten wie die in Venedig nutzen. Einerseits will ich nicht, dass mein Film instrumentalisiert wird, andererseits will ich nicht, dass seine politischen Anliegen übersehen werden.

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