Montag, 24. Mai 2010

Können nur Götter uns noch retten?

Wenn Poesie und Politik sich treffen: Ein thailändischer Geisterfilm gewinnt die Goldene Palme und auch sonst ging es spirituell zu, beim diesjährigen Filmfestival von Cannes

Von Rüdiger Suchsland

Gefasst und kühl war Juliette Binoche nur äußerlich. Ihre flammende, auch für Cannes-Verhältnisse überaus lange Dankesrede spiegelte aber, was in ihrem Herzen vor sich ging: Wut und Trauer über die Verhältnisse im Iran, vor allem aber über die Unterdrückung der Kunst. Gerade hatte die Binoche, eine der Großen des französischen Kinos, aber doch nach wie vor immer ein wenig im Schatten einer Catherine Deneuve, einer Jeanne Moreau und einer Isabelle Huppert stehend, den Preis für die beste Darstellerin beim Filmfestival von Cannes überreicht bekommen - für den Film "Copie conforme" des iranischen Regisseurs Abbas Kiarostami, - da hielt sie ein Plädoyer für die Freiheit der Kunst und den im Iran inhaftierten und seit einer Woche im Hungerstreik befindlichen Regisseur Jafar Panahi.

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Die Verbindung von Poesie und Politik vereint auch die Filme, die am Sonntagabend zum Abschluss der Filmfestspiele in Cannes die wichtigsten Preise überreicht bekamen: "Of Gods and Men" vom Franzosen Xavier Beauvois und vor allem "Uncle Boonmeem who can recall his past lives" vom Thailänder mit dem nur auf den ersten Blick unaussprechlichen Namen Apichatpong Weerasethakul.

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Eine oberflächliche Lesart der Preise mag den Verdacht nahelegen, hier habe die Jury um Präsident Tim Burton vor allem politisch Bedeutsames prämiert: schließlich kommt der Sieger aus Thailand, von woher derzeit täglich neue Meldungen über blutige Straßenkämpfe Europa erreichen, Weerasethakul ist dort ein bekannter Oppositioneller, und es ist keineswegs sicher, ob er so bald gefahrlos in seine Heimat zurückkehren kann. Zudem gibt es in "Uncle Boonmeem…" einen Erzählstrang der die Rolle des immer wieder putschenden Militärs kritisiert. Xavier Beauvois' Film handelt direkt von einem Konflikt zwischen Christen und Muslims - ist also auch politisch überaus aktuell.

Aber das ist nur die Oberfläche: Wenn man in den vergangenen 12 Tagen die 21 Filme des Wettbewerbs und anderes außer Konkurrenz oder in den Nebensektionen verfolgte, muss man zugeben: Es sind genau diese beiden Filme, so verschieden sie auch sind, die die beiden wichtigsten Säulen des Weltkinos - Sensibiltät und Engagement, Eigensinn und Offenheit, Konsequenz und Erfahrung, oder wenn man so will: Ästhetik und Politik - am allerbesten und am subtilsten verknüpften.

Demgegenüber waren andere Werke wie Alessandro Inárritus überhitzter "Biutiful" und Mike Leighs, in den Kritikerspiegeln favorisierter "Another Year" unbedeutend und didaktisch. Trotzdem war der Preis für Weerasethakul eine Überraschung für viele.

Es sage keiner, er habe diesen Film verstanden: Worum es geht? Um Seelenwanderung und Reinkarnation, und man muss kein Spiritualitätsskeptiker sein, um das für einen unverfilmbaren Kinostoff zu halten. Der Onkel Boonmee des Titels wird bald sterben, reist mit seinen Angehörigen in die Natur des thailändischen Dschungels und erinnert sich an seine vergangenen Leben. Er war einmal ein Fisch, ein Wasserbüffel, es geht um Magie, um Animismus, um die Aufhebung der Grenze zwischen Geist und Natur.
Für - unfreiwilliges? - Gelächter sorgten regelmäßig auftauchende zottelige Waldgeister, die aussahen wie "King Kong" in Menschengröße. Aber Thai-Soldaten kommen auch vor, buddhistische Mönche, Bilder aus Abu Ghraib - Kino als Bewusstseinsstrom, aber weil es aus dem fernen Osten kommt, kann man darüber nicht so produktiv streiten, wie über den neuen Godard und sein Manifestkino. Stattdessen dominiert Bedeutungsverdacht die Reaktionen der europäischen Kritiker, die dann andächtige Sätze schreiben, wie dass sich dieses Kino "jeder einfachen Deutung entzieht". Was natürlich stimmt, aber doch auch für Godard gilt, dem man dann aber lieber jene Unverständlichkeit vorhält, die man bei Weerasethakul für putzige Fernöstlichkeit hält, oder für den Beweis von Tiefe.

Wobei die Unverständlichkeit Godards übrigens ungleich geringer ist.

Entscheidend ist aber vielleicht trotzdem gar nicht, was wir sehen, sondern wie: Man hört die Grillen zirpen und andere Dschungelgeräusche, meist herrscht Zwielicht, und die Einstellungen sind lang. Man sollte es zugeben: Nicht wenige professionelle Festivalbesucher fielen während der Vorstellung am neunten Tag des Wettbewerbs erschöpft in einen mehr oder weniger verdienten Schlaf.

Alles wirkt fast wie eine Kunstinstallation und seit jeher macht Weerasethakul, der Liebling einer sehr bestimmten Kunstszene in Europa, auch Kunst fürs Museum. Und dort scheinen seine Filme manchmal eher hinzugehören als ins Kino.

Aber Kino ist am Ende eben doch alles, was auf einer Leinwand läuft, und so nutzt der Preis für Weerasethakul dem Kino als Ganzem: Ein Symbol für seine Freiheit, dafür, dass Kunst dazu da ist, ihre Grenzen auszuloten und manchmal zu überschreiten.

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Ist das nun ein Zeichen für die Krise des Kinos oder gerade eins für seine Lebendigkeit? Werden, wo alles zu wanken scheint, und man bei Akropolis als erstes an Apokalypse denkt, auch die Filme verrückt? Oder gelingt es eher dem Kino gerade in Krisenzeiten dem Alltag Impulse zu geben? Weerasethakuls Kunst der Geduld und des genauen Hinschauens muss man so verstehen. Und auch Xavier Beauvois' "Of Gods and Men": Der erzählt von einem kleinen katholischen Mönchskloster in Algerien. Die Mönche sind nur neun und meist alt. Sie kümmern sich um die Dorfbewohner und bekommen Ärger mit den islamischen Fundamentalisten - denen sie andererseits sonderbar nahe stehen. Dass der Film auf einer wahren Geschichte beruht, tut nichts zur Sache, wichtig ist, wie sensibel und vielschichtig der Regisseur vom Glück und der Liebe erzählt, vom Glauben und einem Martyrium - denn das alles nicht gut ausgehen kann, ist den Mönchen und dem Publikum früh klar. Die zwei Hauptpreise gab es also für Filme, die spirituelle Erfahrungen ins Zentrum rücken. Ist das die These des Weltkinos zur aktuellen Krise? Können nur Götter uns noch retten? Oder sind derartige Gedanken eher die kurzfristige Folge eines zwölftägigen Kinomarathons, der einem schon einmal die Bodenhaftung nehmen kann?

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Es war ein überaus merkwürdiges Jahr in Cannes: Lange nicht hatte man bezüglich der Preise derart im Dunkeln getappt. Noch nie war ein Cannes-Wettbewerb so ohne Richtung geblieben, und dabei auch ohne echte Überraschungen, ohne Provokationen. Auch die sonst so starke Nebenreihe "Quinzaine" schwächelte. Trotzdem sah man viele starke Filme - nur war die Spannbreite viel geringer und ein negatives Erlebnis häufiger als sonst bei diesem wichtigsten Festival der Welt.

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Das ging auch vielen anderen ähnlich. Wer Lust hat einmal nachzulesen, der kann internationale - und vor allem: jüngere - Punktewertungen im Blog der "Revista del Cine" [http://letrasdecine.blogspot.com/2010/05/cannes-2010-tournee-mathieu-amalric.html], außer mir macht aus Deutschland auch Cristina Nord mit, ein paar Amerikaner, der Rest vor allem Spanier und Lateinamerikaner, aber auch die Festivalleiter von Locarno und Buenos Aires.
Ältere Autoren schreiben und stimmen bei "Screen", das Cannes-Daily [http://www.screendaily.com/festivals/cannes/] dürfte aber nicht mehr lange frei online stehen. Ich fand auch den von Josef Lederle geführten Filmdienst-Blog [http://blog.film-dienst.de/] sehr lesenswert.

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Doug Limans Film "Fair Game" im Wettbewerb weiß nicht, was er will. Irgendwie geht es um die Ehe von Naomi Watts, irgendwie geht es um Verschwörung, irgendwie geht es um die gute Seite der CIA. Liman bot die typische amerikanische Verlogenheit: Der Film suggeriert uns, gerade am Ende, dass das System funktioniert, und nur bestimmte Personen falsch oder böse gehandelt haben. Dieser Eindruck ist aber falsch: Das Problem der Ära Bush ist nicht George W. Bush, es ist das System, das Bush möglich gemacht hat. Von Anfang an, beginnend mit seiner illegalen Wahl, gab es Systemversagen. Nicht nur Inmoral, sondern Legalitätsdefizite.

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"Man muss immer anschaffen gehen", sagte die deutsche Schauspielerin, mit der ich mal am Strand saß, "den Zuschauer verführen." Das gilt auch für ein Festival. "Cannes ist der Ort, wo gezeigt wird, was Sache ist im Weltkino, wo der Ton des Weltkinos bestimmt wird." sagt Carlos vom BR und da hat er recht.
Am Ende hatte man es eigentlich schon vorher gewusst: Keine Überraschungen, aber ein paar Filme die wirklich gut und interessant sind, darunter drei, vier, die die Spreu vom Weizen trennen: "Carlos" von Assayas. Godards "Film Socialisme", "Belle Epine" und "Unter Dir die Stadt". Nichts davon im Wettbewerb. Dort war der beste dann mit gewissen Vorbehalten "On Gods and Men".

Sonntag, 23. Mai 2010

Goldene Palme für Apichatpong Weerasethakul

Die Preise in Cannes - und Hong Sang soos "Un Certain Regard"-Siegerfilm - Cannes-Blog, 9. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Erstmals erhält ein Thailändischer Regisseur die Goldene Palme: Apichatpong Weerasethakul gewinnt mit seinem Film "Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives" diese wichtigste Auszeichnung des Welt-Kinos.

Weitere Preise der Hauptjury:

- "Grand Prix" für "Of Gods And Men" von Xavier Beauvois (Frankreich)
- "Beste Regie": Mathieu Amalric (Frankreich) für "On Tour"
- "Bestes Drehbuch": Lee Chang-dong (Korea) für "Poetry"
- "Beste Darstellerin": Juliette Binoche (Frankreich) für "Copie Conforme"
- "Bester Darsteller": ex aequo an Javier Bardem (Spanien) für "Biutiful" und Elio Germano (Italien) für "Our Life"
- "Jury Preis": "A screaming man" von Mahamat-Saleh Haroun

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Wenn man in einen Film vom Koreaner Hong Sang-soo geht, weiß man, was einen in der Regel erwartet: Es kommen eigentlich keine Kinder und auch keine Tiere vor in Hongs Filmen. Es kommen wenige Privatwohnungen vor. Man trifft sich in öffentlichen Plätzen, vorzugsweise Restaurants. Man wird Menschen, meist zu zweit, sehen, die viel miteinander reden, und ebensoviel essen. Sie trinken auch viel beim Essen. Betrinken sich. Die Handlung spielt oft in der Stadt. Es geht in den Gesprächen oft um Abwesende, um Lebenspartner und Freunde oder Verwandte. Um, die Arbeit - es sind oft Künstler und Intellektuelle - und um den Sinn des Lebens.

Es ist schon ebenso erstaunlich, wie großartig, wie Hong Sang-soo dieses einfache Grundprinzip seit Jahren variiert, und ihm immer Neues abgewinnt. Natürlich erinnert das vor allem an Rohmer, in seiner Leichtigkeit, scheinbaren Einfachheit, und auch die leichte Klaviermusik, die manchmal einen Szenenwechsel begleitet, mutet französisch an.

"Hahaha", sein neuer Film, der in der Nebenreihe "Un certain regard" den Hauptpreis gewann, setzt mit einem Essen ein. Man sieht es nur in Form von Schwarzweißfotos, zwei Freunde treffen sich, und erzählen als doppelte Off-Erzähler abwechselnd von ihrem gemeinsamen Aufenthalt in der südlichen Provinzstadt Tongyeong. Der eine ist ein Regisseur, der andere ein Schriftsteller mit Depressionen. Es kommen noch ein paar Figuren hinzu, insgesamt dreht sich alles um drei Männer und drei Frauen, um die sich ein Reigen aus Liebe und Begehren entspinnt, voller Irrungen und Wirrungen und doch jederzeit gelassen.
Immer wieder wird auch hier viel getrunken, und viel geredet, und wenn es so etwas wie eine moralische Botschaft in Hongs Filmen gibt, dann ist das der Glaube an die Kraft und die Möglichkeiten der Kommunikation. Alle reden immer über alles mit allen. Es bringt zwar trotzdem nichts im Sinne einer Problemlösung, aber es trägt zur Aufklärung bei, zum Mehr-Wissen, es scheint zu erleichtern, es tut gut, es spendet Trost.
Die Gespräche drehen sich um Vieles: Ein untergründiges Thema ist diesmal die Frage, was ein Held ist? Und ob die moderne Gesellschaft noch Helden möglich macht und nötig hat. Unnötig hinzuzufügen: Hong, der glückliche Skeptiker, glaubt das nicht. Eine Figur sagt: "Dying for a higher good is a joke now".
Ein zweiter Erzählstrang ist die philosophische Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Erfahrung: "The less you know, the more you see." sagt der Regisseur einmal, und Hong identifiziert sich damit. Seine Filme lehren uns Offenheit, wollen befreien. Einmal träumt der Regisseur, trifft einen alten Kriegshelden, und bekommt zu hören: "See with yours eyes. Dont see with the thoughts of others."

Es gibt Reflexionen über das Betteln und unseren Umgang mit Bettlern, über Existentialismus, und natürlich über die Liebe. "Hahaha" ist eine Comedie Humaine, eine Sommergeschichte, sehr menschlich und sehr schön.

Samstag, 22. Mai 2010

Heute sind wir alle Bayern!



Die unabhängigen Sektionen, erste Preisvermutungen, der Teufel und der vermutlich spannendste Film des Festivals - Cannes Blog, 8. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Den "Teufel" nennen ihn die katalanischen Freunde, und wenn man José Mourinho in Barcelona erlebt hat, versteht man, warum. Für die Nichteingeweihten: José Mourinho ist kein portugiesischer Regisseur und kein brasilianischer Filmstar, sondern der Trainer von Inter Mailand. Genau: Fußball. Heute Abend werden viele Akkreditierte nicht ins Kino gehen, sondern sich rechtzeitig einen guten Platz in einem Café oder einer Bar sichern, in der man das Championsleague-Finale überträgt. Und alle, bis auf die Italiener natürlich, werden für den FC Bayern sein. Die Katalanen und anderen Spanier (außer vielleicht ein paar fanatischen Real-Fans) sowieso. Aber auch jene Deutsche, die sonst jede Bayern-Niederlage bejubeln, sogar ein bekennender 1860-Fan (und BR-Redakteur) outete sich vorgestern entsprechend. Auch die Holländer, für die laut Jeroen vom "Filmkrant" Bayern sonst ein rotes Tuch ist. Ich werde das Spiel mit den Spaniern und Diego Lerer aus Argentinien sehen. Es wird der vermutlich spannendste Film des Festivals werden.

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Die unabhängigen Sektionen "Semaine de la Critique" und "Quinzaine des Réalisateurs" stehen auf einem A-Festival natürlich im Schatten des Wettbewerbs. Aber gerade in Jahren wie diesen, in denen die "Sélection officielle" doch alles in allem einige Wünsche offen lässt, können sie Trost spenden, und die eigentlichen Überraschungen und Entdeckungen parat halten. Der "Semaine", der zweitältesten Sektion in Cannes, gelingt dies auch vorzüglich: Erstmals seit Jahren laufen zumindest Wiederholungsvorstellungen am nächsten Morgen im "Salle Bunuel" im offiziellen Festivalpalais. Beschränkt auf erste und zweite Langfilme bietet man ein knappes, konzises Programm, das es gar nicht nötig hat, seine Jugendfrische zu betonen. Mit David Robert Michells Coming-of-Age-Story "The Myth of the American Sleepover", Janus Metz' Afghanistan-Drama "Armadillo", der am Ende den Preis der Reihe gewann und vor allem "Bedevilled" vom langjährigen Kim Ki-duk-Assistenten Jang Cheol-soo zeigte man drei weitere unbedingt sehenswerte, so vielfältige wie konsequente Debüts: Vor allem "Bedevilled", ein feministischer Horrorfilm über eine mysteriöse Insel, in der Frauen als Sklaven gehalten werden, nutzte die Semaine die Chance eines Festivalprogramms, inhaltlich wie formal die Extreme auszureizen.

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Genau dies war bisher das Markenzeichen der dreimal so großen "Quinzaine", in deren Schatten die "Semaine" immer stand. Das könnte sich ändern. Über sechs Jahre war es Leiter Olivier Père gelungen, regelmäßig ein extrem niveauvolles, abwechslungsreiches Programm zu bieten, das verlässlich zukünftige Festivalhits versammelte, strenges Kunstkino mit hochwertigem Genre verband, Namen wie Andres Wood, Eric Khoo, Christophe Honoré und Lissandro Alonso zu entdecken, regelmäßige Coups zu landen, indem man neue Filme von William Friedkin, Francis Ford Coppola, Bong Jon-hoo und Asia Argento zeigte, und mit alldem sogar dem Wettbewerb Konkurrenz zu machen. Als Père nun im Herbst nach Locarno wechselte, um dort Festivaldirektor zu werden, war es für den neuen Leiter Frédéric Boyer keine leichte Aufgabe. Doch Boyer hat schon im ersten Jahr die ohnehin bescheidenen Erwartungen noch unterboten und im Nu Pères mühsam aufgebautes Erbe verspielt.
Es stimmt schon verdächtig, wenn ein Chef als allererstes das Logo neu designen lässt, und den Trailer verändert - ein so symbolischer wie unnötiger Bruch mit einer herausragenden Tradition. Und die 22 Filme 2010 dürften als das schwächste "Quinzaine"-Programm seit über einer Dekade im Gedächtnis bleiben. Überraschungen bleiben völlig aus. Am schwersten wiegt aber, wie ähnlich sich alle Filme sind, wie einseitig narrativ und an Bildeinfällen desinteressiert, und wie deutlich in ihnen der gleiche depressive, dabei gelangweilte Grundton dominiert. Auffallend ist auch ein Faible für Ekelszenarien.

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Das alles ist keineswegs eine Einzelmeinung, vielen internationalen Kollegen geht es ähnlich, und es hat sich offenbar auch beim breiten Publikum herumgesprochen: Auch am ersten Samstag war die Abendvorstellung der Quinzaine nicht ausverkauft - ob das nur am speziellen Thema des Kannibalenfilms aus Mexico, lag? -, fast nie sah man Schlangen vor dem Kino.
Der mexikanische Kannibalismus-Film "Somos lo que hay" war noch einer der Besseren. "Ha'Meshotet" aus Israel erzählt vom Sohn orthodoxer Juden, bei dem die familiäre Repression erst zu Magenschmerzen führt, dann schließlich in die Vergewaltigung einer Betrunkenen mündet. Das mag in Israel eine brisante Handlung sein, blieb aber filmisch überaus eindimensional. Ähnliches gilt auch für Philip Kochs deutsches Gefängniskammerspiel "Picco", das bereits in Saarbrücken Premiere hatte, und bei dem der Dreck von den Ausstattern allzu hübsch in die Ecken geschmiert wurde.
Einzige positive Ausnahme: "Des filles en noire" von Jean Paul Civeyrac. Auch der fügt sich thematisch zwar ins Bild - es geht um zwei Schülerinnen, die nach Kleist-Lektüre akut selbstmordgefährdet sind -, findet aber eindringliche Bilder und eine Nähe zu seinen Figuren, die alle Widerstände überwinden und im Zuschauer unerwartete Gefühle erzeugen - also genau das, was man sucht, wenn man auf einem Festival täglich mindestens drei Filme ansieht. Ein Film der gerade deshalb gelingt, weil man hier sich auf nichts verlassen kann.

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Während im Wettbewerb noch bis zum Samstagabend letzte Beiträge Premiere feiern, beginnt man, die Favoriten zu sortieren. Vor allem drei Namen sind zu nennen: Der Brite Mike Leigh, dessen "Another Life" zumindest als Geschichte eines alternden Paars überzeugte: Ein überaus humaner Film, der manchen Leigh-Skeptikern überraschend gut gefiel, freilich auch nicht wenigen Beobachtern viel zu moralisierend war. Gegen Leigh spricht allerdings, dass er bereits einmal die Goldene Palme bekam, 1996 für "Secrets & Lies". Fast ein Unbekannter ist dagegen der Franzose Xavier Beauvois (geb. 1967), dessen "Of God and Men" von einem katholischen Kloster im Maghreb erzählt, wo die Mönche sich mit Muslimen arrangieren müssen - eine politische Parabel über die feinen Veränderungen und die innere Dynamik einer Männergesellschaft, und auch über religiöse Toleranz. Auch der Koreaner Lee Chang-dong bekam für seine zarte Familiengeschichte "Poetry" viel Beifall - aber asiatische Filme hatten in Cannes selten Glück. Gewisse Außenseiterchancen hat dafür sogar Altmeister Bertrand Tavernier, dem mit der Verfilmung des Barockromans "La Princesse de Montpensier" ein Überraschungscoup glückte: Man hatte einen routinierten Kostümschinken erwartet, und sah eine intensive, bewegende Liebesgeschichte aus der Zeit der Hugenottenkriege, ein Zehntel so teuer wie Jo Baiers missglückter "Henri 4", der die gleiche Zeit beschreibt, aber zehnmal so gut.
Unter Preisverdacht schließlich auch zwei Osteuropäer: Der Ukrainer Sergej Loznitsa überzeugte mit seiner Gangsterbourleske "My Joy" - die zwar deprimiert, aber postkommunistische Zustände sehr zwingend in Parabelform fasst. Auf andere Weise tut das auch der Ungar Kornél Mundruczó: "Tender Son" ist eine sehr moderne Fassung von Mary Shelleys romantischer Horrorstory "Frankenstein". Alles ist ungemein ausgedacht, und erntete bei einigen Kritikern sogar Pfiffe. Das ist vielleicht ungerecht. Aber unbedingt ist der Film mit dem zweiten Freitagabend, also dem vorletzten Tag des Wettbewerbs, sehr unglücklich programmiert. Auf den stillen, konzentrierten, aber auch Konzentration erfordernden und fraglos anstrengenden Film konnte sich nicht mehr jeder einlassen.
Zumindest Jury-Präsident Tim Burton, einem erklärten Fan des "Gothic-Horrors" und selbst Regisseur eines "Frankenstein"-Films, dürfte er aber nicht kalt lassen.

Freitag, 21. Mai 2010

Französische Prinzessin

Léa Seydoux

Sehnsucht nach Freiheit: Rebecca Zlotowskis "Belle épine" und eine Hauptrolle für Léa Sedoux – Cannes-2010 Blog, 7. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Es gibt Filme, da muss man nur die allerersten Sekunden sehen, um zu wissen, dass man sich auf sie verlassen kann: "Belle épine" ("Schöne Dorne") von Rebecca Zlotowski ist so ein Fall. Die Regisseurin zeigt ein junges Mädchen. Aus dem Off hört man eine harsche Frauenstimme: "Wie heißt Du? Mach Deine Taschen leer! Zieh Dich aus!!" Schnell ist klar, dass es sich um eine Polizeistation handelt, und das Mädchen als Ladendiebin erwischt wurde. Sie heißt Prudence, ihr Verhalten ist aber das Gegenteil von Vorsicht und Bedachtsamkeit. Mitunter scheint es im Gegenteil fast von einem uneingestandenen Selbstzerstörungstrieb bestimmt zu sein. Nur in ihrem Blick, der oft nach unten gerichtet ist und eine Mischung aus "störrisch" und "schüchtern" ausdrückt, liegt von Anfang an eine Zurückhaltung, über die man bald mehr erfahren wird. Dann führt man noch eine zweite junge Diebin herein, sie heißt Marilyne und nur in ganz beiläufigen, kaum bemerkbaren Gesten entsteht zwischen den beiden Mädchen eine Beziehung. Als das Verhör dann vorbei ist, wird Marilyne von ein paar Jungs auf dem Motorrad abgeholt, doch an den sehnsüchtigen Blicken, die Prudence ihr und den Bikern hinterherwirft, ist klar, dass sie alle sich wiedersehen werden.

Dies ist ein wilder Film, der immer wieder unerwartete Wendungen nimmt und ganz von der Sehnsucht der Hauptfigur beherrscht wird: Nach der unbekannten Freiheit der Untergrund-Biker, nach erstem Sex, nach Liebe. Es gibt eine Art Überdruck in den Szenen, in denen das Leben dieser 17jährigen, die fast immer im Bild ist, nun in kurzen Sprüngen entfaltet wird, eine Grundspannung, die der von Prudence entspricht, aber Zlotowskis Inszenierung bleibt trotzdem kontrolliert und gibt immer nur das preis, was unbedingt nötig ist. Prudence hat gerade ihre Mutter verloren, der Vater ist für ein paar Wochen in Übersee, die ältere Schwester schaut nur gelegentlich vorbei.

Naturalismus und Klarheit der Hinsehens lassen an die Dardennes und an Pialat denken, aber mehr noch erinnert der Film in seiner melancholischen Verbindung von Trauer und Liebe, seinem Romantizismus der Verlorenheit, an das US-Kino der 70er: Monte Hellman, Cassavettes, der frühe Scorsese. Für manche Beobachter ist dieses Debüt, wie für mich, sogar der bisher beste französische Film in Cannes - die 30jährige Rebecca Zlotowski, die ganz offensichtlich in der Pariser Filmszene gut vernetzt ist - in den Nachspann-Credits gibt es Danksagungen für Louis Garrel und Noémie Lvovsky, zuletzt gehörte sie auch zum Auswahl-Team der Quinzaine unter Olivier Père - ist eine Regisseurin, die man von nun an im Auge behalten wird. Das gilt erst recht für die großartige Hauptdarstellerin Léa Seydoux, die vor zwei Jahren von Christophe Honoré als Hauptfigur von "La Belle Personne" entdeckt wurde, und derzeit gerade noch in "Lourdes" (als junge Krankenschwester) und in "Robin Hood" (als französische Prinzessin Isabelle d'Angoulème) zu sehen ist. Der Film ist ganz auf sie zugeschnitten, und sie füllt diesen großen Raum jederzeit mit Präsenz und Intensität ganz und gar aus - ohne Frage der neue aufsteigende Stern unter den französischen Darstellern.

Donnerstag, 20. Mai 2010

Grande eventi!

"Another shitty day for Silvio Berlusconi"
Italiener in Cannes - Cannes Blog, 6. Folge

Von Rüdiger Suchsland

"Es gibt Länder, die habe ich schon lange aufgegeben." sagt der Redakteur der überregionalen Berliner Zeitung nach Ansicht des Berlusconi-Dokumentarfilms, "dazu gehören Griechenland und Italien. Es ist einfach unfassbar." Ja, es ist einfach unfassbar, und wir hätten auf ihn hören sollen, auch im Hinblick aufs Kino. Stattdessen haben wir wieder einmal, entgegen häufiger Erfahrungen, einem italienischen Film eine Chance gegeben. Schließlich lief hier vor ein paar Jahren "Gomorrah". schließlich sind gleich zwei Italiener in der Jury diesmal, und man weiß ja, wie die ticken.

Aber damit hat "La nostra vita" von Daniele Luchetti absolut nichts zu tun. Schon das Presseheft mit seinen glatten kitschigen Bildern hätte uns warnen müssen, aber das haben wir erst später gesehen. Schon die allererste Szene, mit ihren laut und, man muss das so sagen, "typisch italienisch" übertrieben gestikulierenden Menschen, ihren "typisch italienisch" schreienden Bauarbeitern, der Pseudodramatik, dem Pseudo-Tempomachen war eigentlich so, dass wir wieder rausgehen wollten, aber das macht man ja nicht. Und später erzählt Violeta aus Barcelona, dass es ihr genauso ging. Schon die zweite Szene, der Bauarbeiter mit seiner schwangeren Frau auf dem Bett, ein, man muss auch das so sagen, "typisch italienischer" Ballaballa-Schlager trällert aus dem Off, und wir sehen Menschen, die arm, aber glücklich und vor allem Erfindungen des Drehbuchautors sind. Die Frau sieht aus wie 20, hat aber schon zwei Kinder. Man geht einkaufen, malt die Wohnung an, der Papa findet eine Leiche im Beton, und Mamma tröstet ihn… Ja, so ist das Leben, da fällt mal die Eiskugel herunter, und dann heben wir sie wieder auf.
Bei der Geburt stirbt die Mutter, aber das Leben geht weiter…

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"Another shitty day for Silvio Berlusconi" beginnt "Draquila - L'Italia che trema" von Sabina Guzzanti. viele Kollegen haben sich über dieses Filmpamphlet mokiert, aber es ist nur so wie sein Gegenstand, der grobe Keil eben auf den groben Klotz Berlusconi. Zuerst sieht man Berlusconi, "a jerk with a terrible sense of humor" am Telefon mit Obama beim G8-Gipfel, Merkel steht daneben, beim Handkuss für Ghaddafi, besoffen mit Bush… Man sieht Berlusconi-wählende Mammas, die auf die Frage nach seinen Affären mit Minderjährigen nur antworten: "Gott sei Dank ist er nicht schwul." Man begreift: Die Ohnmacht Italiens hat etwas mit diesem Land zu tun. Man kann Volk und Land in diesem Fall nicht einfach trennen.
Dann das Erdbeben in L'Aquila am 6.4.2009. Die Opfer werden in einem Lager gehalten wie Gefangene. Sicherheitswahn regiert, Angst vor Fremden. Aber auch "opressive paternalism": Im Lager sind Alkohol, Kaffee, Cola nicht erlaubt - um nicht aufzuregen. Demos und Meetings der Opfer simd auch verboten, ebenso Medien-Besuche.
Es geht um den Papst- und Berlusconifreund Guido Buertolaso, der einfach nur korrupt ist, und um Angelo Balducci, um Berlusconi selbst, die Mafia und um das böse Geschäft mit dem Erdbeben. Die Regisseurin kommt erst am Schluss auf die Toten, was eine gute Entscheidung ist. Italien sei "a shit dictatorship without torture". So ist es wohl.

Die Garbo der Regisseure

Jean-Luc Godard und sein "Film Socialisme" in Cannes - Cannes 2010-Blog 5. Folge

Von Rüdiger Suchsland

In 140 Zeichen etwas über Godards neuen Film zu sagen, sei unmöglich, schreiben zwei Kollegen einstimmig auf "Cargo". Das schreiben gerade die, die aus dem Kino gern noch smse mit ersten Eindrücken verschicken. Das kann man natürlich machen, wie so Vieles, aber ich gebe zu, dass mich diese neue Filmkritik-per-sms-Kultur doch um einiges mehr irritiert als wenn Kritiker einfach ihre Aufgabe erfüllen, zum Beispiel auf 140 Zeichen einen sinnvollen ersten Eindruck zu formulieren. Versuchen wir's also.
Davon abgesehen: Für wen sind eigentlich diese smse, außer für Freunde der Freunde? Und die, die sich gern für Freunde halten. Und für andere Kritiker, die natürlich solches Zeug immer lesen, schon weil man wissen will, was die Kollegen machen. Mit Godard haben diese Fragen insofern dann etwas zu tun, als dass es in seinem Film unter anderem um Kritik und ihre Funktion geht. Und um Unterhaltungsindustrie. Man versteht Godard sicher nicht falsch, auch wenn der Gedanke nicht sehr originell ist, wenn man unterstellt, dass für ihn solche Formen doch irgendwie eitlen Entertainments nichts mit Filmkritik zu tun haben.

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A propos sms: Kurz vor der Premiere war die Absage von Godard für Besuch und Pressekonferenz gekommen. Später im Gespräch sagt eine Freundin, Godard habe an seinen Weltvertrieb "Wild Bunch" eine sms geschrieben, mit der Bemerkung, dass er beim jetzigen Zustand der Welt auch in Cannes nicht über einen Roten Teppich laufen möchte. In der Zeitung am Morgen ist dagegen von einem Fax die Rede: "Je ne pourrai être votre obligé à Cannes. Avec le festival, j’irai jusqu’à la mort, mais je ne ferai pas un pas de plus. Amicalement. Jean-Luc Godard".

Wofür man die Kollegen von "Cargo" andererseits nicht genug loben kann, ist ihre geradezu enkelhafte Fürsorge um Großvater Godard. Es gibt dort außer besagten smsen auch ein Interview mit Alexander Horwath (das ich noch nicht hören konnte, weil das hier im Presseraum von Cannes nicht funktioniert) und den Hinweis auf ein sagenhaftes, auch sagenhaft langes Interview mit Godard, das Dani "le Rouge" Cohn-Bendit mit ihm geführt hat. Im Original auf Französisch hier und dann in englischer Übersetzung.

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Die Rückkehr von Godard an die Croisette war das große Ereignis zur Mitte des Festivals. Der Nouvelle Vague-Meister, der im Dezember 80 wird, ist weiterhin ein Star, abwesend wie die Garbo, präsent wie die Unsterblichen, Voltaire und Sartre.
Bei der ersten Vorstellung von "Film Socialisme" sitzt die Creme de la Creme des französischen Films im Kino: Zwei Reihen vor mir sehe ich Agnès Varda, direkt vor mir Claire Denis und Laurent Cantet. Der döst dann zwar später mal eine ganze Weile, bleibt aber drin - im Gegensatz zu manchem Kritikerkollegen, der einfach früher rausging - aber dazu später.
"Merveilleux" rief Claire Denis nach der Vorstellung vernehmlich wie spontan, "Fabelhaft", und dem kann man sich nur anschließen: Ein wunderbarer Film! Verstanden haben wir ihn trotzdem bestimmt auch nicht ganz, aber man kann es ja mal versuchen.

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Godards neuer Film will ganz bewusst ein Essay sein, keine irgendwie geartete Handlung erzählen. Der Film ist dicht und gedankenreich. Er spiegelt den Bewusstseinsstrom seines Regisseurs, und provoziert damit natürlich, dass auch der Zuschauer seinen eigenen Bewusstseinsstrom hat, jeder einen anderen natürlich, und so ringelt sich Bewusstseinsstrom um Bewusstseinsstrom um diesen Film. Auf diese Weise geht es voran.

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Tolstoi schrieb seinen Roman "Krieg und Frieden" 56 Jahre nach Napoleons Russlandfeldzug. Die Reflexion braucht Zeit. Aber jetzt wird es Zeit, langsam damit anzufangen, dem 20. Jahrhundert, besonders den Jahren 1933-1945 eine Form zu geben. Ich erkläre mir diesen Film als einen Versuch, eine Summe des 20. Jahrhunderts zu ziehen. Die notgedrungen skeptisch ausfallen muss.
Es geht darin um Orient und Okzident, um die Revolution und ihr Erbe, die Revolutionen, es geht um Sprache und Theorie und Literatur.

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Das wichtigste Stilelement ist die Montage. Godard montiert - und hier passt der mechanistische Ausdruck einmal - er montiert diverse vorgefundene Bilder - von alten Wochenschauen und Kinofilmen, über Fotos zu selbst gedrehten Dokumentstücken - mit inszenierten Szenen. Er montiert Tonspuren übereinander. Die Sprachen sind Französisch und Englisch, aber auch mal Deutsch, Russisch, Hebräisch, Arabisch. Übersetzungen gibt es keine, jedenfalls keine direkten. Daher wird kaum einer den Film komplett einfach verstehen können. Parallel zur Tonspur gibt es eine Untertitelspur, die in Englisch eben nicht übersetzt, sondern Wortkombinationen montiert, mit dem Ergebnis, dass dies eine eigene Ebene ergibt.

Jean-Luc Godards Englisch auf dieser Untertitelspur ist wie das der Indianer im Western:
"first produce
no say
show first what's possible"
Oder:
"think hard
what you fight for may obtain."

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Zweites Stilmittel ist die Vielstimmigkeit: Schauspieler sprechen im Bild oder aus dem Off die Sätze, die wohl oft als Ausdrucks Godards selbst gesehen werden dürfen, nicht als die einer Rolle. Es gibt aber auch Dialoge. Anscheinend sind viele der Sätze aus Büchern anderer Autoren entlehnt. Vielstimmig sind auch die Bilder in dem Sinn, dass sie formal verschiedene Qualität haben. Man kann sagen, dass dies ein Fall ist, wo das Digitale eher nicht weiter führt: Diverse Mätzchen in der Farbgestaltung der HD-Kamera stören eher, als dass sie Gewinn bringen.

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"Friends dissaprove acts but not my existence"
"Je reste, comme ca no thirst"
"Basterds are now sincere"
"Wenn Sie Scherze über Balzac machen, werde ich Sie töten."
"Ich will auch die Sonne angreifen, wenn sie mich eines Tages angreift."
So weit die Lage der Dinge, selon Godard.

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"Film Socialisme" ist eine geschichtsphilosophische Zeitreise von der Antike bis zur Gegenwart. Sie kreist um das kulturelle und politische Erbe Europas, verbindet viele Ebenen. "Quo Vadis Europa?" ist die Leitfrage, das antike Griechenland, das Ägypten der Pharaonen, Odessa, Barcelona und Neapel - also das Mittelmeer als der Geburtsort von Demokratie und Menschenrechten - bilden die räumlichen Eckpunkte dieser Reise. Es sind Orte, in denen sich christliche und andere Kulturen vermischen und treffen. "Ach Deutschland" Das fällt dreimal.

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Weiter: Der Film zerfällt in drei grobe Teile. Der erste, längste Teil zeigt eine Kreuzfahrt im Mittelmeer, auf einem Riesen-Ozeandampfer, der "Titanic" heißen könnte oder das Schiff sein, auf dem bei Manoel de Oliveras "Um filme falado" gereist wurde. Dieser Teil verbindet Tourismus mit Reflexionen über Imperien: Byzanz, Rom, Griechenland, Ägypten. Britische und deutsche Bomber im zweiten Weltkrieg, Kamikaze, Napoleon vor Moskau. Am Tag, als er die brennende Stadt verlässt, hat er das Dekret zur Gründung der Comedie Francaise erlassen. Und so weiter… Dialektisches Denken mit der Kamera, dass sich selbst erklärt, und versucht, der Empirie Thesen abzuringen
Der Regisseur bietet darüber hinaus Lesehinweise wie Balzacs "Verlorene Illusionen" und Texte von Andre Gide oder Nagib Mahfus.
Im zweiten Teil geht es um eine Kleinfamilie in der französischen Provinz. Die Kinder proben den Aufstand. Das Fernsehen ist dabei. "Wenn Sie Scherze über Balzac machen, werde ich Sie töten." sagt eine Tochter.
Der dritte, kürzeste Teil, verbindet dann Palästina und das Opfern der Söhne durch die Väter seit Abraham - "I see the fire, but I dont see the lamb." - "God will do the Holocaust" - mit der Sprachtheorie von Roman Jacobson, die eben im fraglichen Holocaust-Winter 1942/43 entwickelt wurde, man hört "Sag mir wo die Rosen sind.", dann kommt Eisensteins Treppe in Odessa, ein griechisches Theater und - "democracy + tragedy married. One child: civil war" Spanien: Barcelona, Barças Iniesta in Zeitlupe und eine Feier "Viva Don Quixote!!" Es fehlt also nichts Wesentliches in diesem Film. Aber was soll das jetzt alles?

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Wie gesagt: Eine Summe des 20. Jahrhunderts. Also Chaos. Enttäuschung. Sinnlosigkeit. Das scheitern von Allem, wovon das 19.Jahrhundert träumte, außer der Mondlandung. Zugleich die Rückkehr ins 19.Jahrhundert.

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Paranoia hat hier ihren Platz. Es geht viel um Gold, das spanische, das angeblich von den Kommunisten geklaut wurde. Das der Bank von Palästina. Das der Araber in den Transporten der Sklavenkarawanen. Es geht um die Organisation Gehlen, um die ODESSA, um neuen Faschismus, das Empire, um Tourismus und Freizeitparks, die auch Utopien sind.
Die Stimmung ist von Trauer und Abgesang geprägt. Und von Hoffnung: "20 Jahre alt sein, Recht haben, sehen statt lesen." Godard ist auch ein Filmemacher, der sich nie um klare Aussagen herumgedrückt hat: "Ideen trennen, Träume bringen zusammen" lautet eine davon, eine zweite: "Der Traum des Staates: Eins sein", der Traum der Menschen: "Zwei sein".

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Warum soll all das "nahezu nichts" bedeuten, wie wir im "Tagesspiegel" lesen? Der Autor vermisst die stringente These. Stimmt, die fehlt. Aber hat es die bei Godard, hat es sie bei irgendeinem guten Regisseur je gegeben? Da trifft es viel besser, was Anke Westphal schreibt: "Sage keiner, dass man Intellektuelle und Künstler wie diesen Regisseur sowieso nicht verstehen könne. Es wäre frech gelogen."
In einer süddeutschen Tageszeitung, lesen wir dann einen am nächsten Morgen etwas arg gönnerhaft von der "Lässigkeit" [sic!] Godards schwärmen, um ihm im nächsten Moment einen harten rechten Haken zu verpassen: "dessen Assoziationsketten man längst nicht mehr folgen kann… So berühmt Godard auch ist, seine Filme schaut ja jenseits eines Festivals wie Cannes auch keine Menschenseele mehr an. … Diesem Modell darf Cannes, darf das Weltkino natürlich nicht folgen, denn sonst würde es sich auflösen wie die funkelnden Eiswürfelberge, die hier am frühen Morgen am Strand liegen, ausgekippt aus den Champagnerkübeln der Nacht. Die Suche nach einem anderen Kino, das sich nicht verkrampft, sich nicht selbst betrügt und dennoch nicht vor völlig leeren Sälen spielt, geht also weiter." Etwas gewagte Behauptung, wenn man - siehe oben - nur den halben Film gesehen hat. Aber immerhin erweckt dieser Lässigkeitsverehrer nicht den Eindruck, er habe den Film verstanden.

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Todd McCarthy, der von der Variety entlassene langjährige Chefkritiker des US-Branchenmagazins, der jetzt auf "Indiewire" schreibt, meinte: "This is a film to which I had absolutely no reaction - it didn’t provoke, amuse, stimulate, intrigue, infuriate or challenge me. What we have here is failure to communicate." Eine verräterische Bemerkung. Denn wer scheitert hier? Godard oder McCarthy? Das wäre noch zu entscheiden? Vielleicht auch einfach die Sprache, und vielleicht es genau das, worum Godards Film kreist?

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"Film Socialisme" ist extrem anregend und amüsant. Solche Filme müsste man machen. Mehr machen. Dies ist genau das, wozu Kino da ist. Und es geht um Utopie. An der will Godard festhalten. "Ich will nicht sterben, bevor Europa glücklich ist." Hoffentlich geht dieser Wunsch in Erfüllung. "Godard for ever" hieß es in der "Liberation".

Dienstag, 18. Mai 2010

Das Strahlen der Orientalen

Selbstmord-Tendenzen, Wahn und Lust, und eine Abu-Dhabi-Party - Cannes Blog, 4. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Bei der Abu Dhabi-Party findet man sich plötzlich neben Danny Huston wieder - da ist Cannes dann so wie vielleicht vor 40 Jahren. Huston ist nett, sieht trotz weißer Schuhe blendend aus, das hat nichts von dem schlaffen Löwenherz, den man in "Robin Hood" sah.
Das Großartige an dieser Party ist aber weder Huston noch das gute Essen, sondern die normalen arabischen Gäste, die auf dem Diwan ausgestreckt oder auf der Tanzfläche verteilt sind: Die Vielfalt der Gesichter, die immerzu erstaunliche, ansteckende Lebensfreude zeigen. Auf der Tanzfläche dann kommen sie ungemein in Fahrt, die Frauen mit langen Haaren, alle gut angezogen, tolle Gesichter, viele Henna-Hände… Was sich auch gut beobachten lässt: Was Frauen so tun, wenn sie wichtigen Männern begegnen, wie sie auf ihnen herumhängen, mit dem Knie arbeiten… Gute Show. Nur die Musik lässt zu wünschen übrig. Es läuft das, was immer läuft: Als ob es eine Filmfestivalparty-Cassette gibt, die um den Globus wandert.

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Die ersten Bilder zeigen einen langen Gang, vielleicht ein Hotel. Aber etwas Irreales, ein Element Übertreibung liegt von Anfang an über diesen etwas zu vielen Türen zu zu vielen Räumen, die sehr bunt aussehen. Man denkt kurz an Wong Kar-wei's "2046", vor allem aber an Kubricks "Shining".
"Chelsea Teens" heißt das Zimmer bald, das der junge Mann eröffnet. Und erst jetzt versteht man: Diese Bilder zeigen nichts Reales, sondern sie zeigen Virtualität. Sie sind, zwischen Pop und Klassizismus, Nostalgie und Einfallslosigkeit, Bilder für das Internet, genauer: Bilder für Chatrooms. Und "Chelsea Teens" heißt der Raum, um den es in diesem Horrorjugendfilm vor allem geht.

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Virtuos sind die ersten Minuten inszeniert, es läuft der zweite Satz der 9. Symphonie von Beethooven, die auch Klassikverächter kennen, aus Kubricks "A Clockwork Orange" nämlich. Zwischendurch sieht man mit Knetfiguren in Stop Motion eine Geschichte über die Schwarze Pest erzählt, vor allem aber erlebt man das Privatleben der fünf Mitglieder des Chats.
Ein ungewöhnlicher Film ist "Chatroom" von Hideo Nakata auf alle Fälle. Vorlage ist das gleichnamige Bühnenstück des Iren Enda Walsh. Wir haben gelernt, solche Filme zu lesen. Immer wieder findet der Regisseur ein paar tolle Bilder für das Internet. Knallig bunt zwar, aber dazwischen reiner Leerlauf. Eine Gruppe britischer Teenager trifft sich. Sie alle haben große Probleme. Schnell konzentriert sich alles auf William (Aaron Johnson), Gründer des Chatrooms, und Sohn einer Schriftstellerin. Er ist neidisch auf seinen Bruder, und vor allem sadistisch veranlagt: Sein Plan: Er will andere fragile Teenies in den Selbstmord treiben. Der Chatroom ist ein Suicide-Club.
Im Kern geht es also um desorientierte Teenager, die Dinge sagen wie: "Die glücklichste Zeit meines Lebens war, als mein Vater Prostata-Krebs bekam." Klassische Teenage-Angst also, und ein unglaublicher Kulturpessimismus, nun allerdings verbunden mit den Neuen Medien.
Der Film häuft alle Klischees zu Internet und Teenager an, die ihm einfallen. Darein mixt er dann Dialoge wie "What are you going to do?" - "Banish some demons". Fragen wie: "Whom do you hate?" mit der vorhersehbaren Antwort "Me" stehen im Raum. Ein wenig hübsch inszenierter, aber nicht grundsätzlich aufregender Ekel kommt dazu: Scheiße auf Autofenstern, Kotzen, ein Messer im Arm. Dann ein japanisches Selbstmordvideo.
Der Haupteinwand gegen die Triftigkeit des Gezeigten muss lauten: Wenn Chatrooms so persönlich wären, so emotional, wie der Film behautet, wären sie anders. Denn die virtuelle Welt ist hier nicht virtuell, das ist das Verlogene an "Chatroom". Eine körperlose Welt. Dafür gibt es auch nach diesem Film keine Bilder. So bleibt ein konventioneller Paranoia-Thriller mit sehr guter Musik.

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Kälte und Amoral schildert der Japaner Takeshi Kitano: "Outrage" ist ein düsterer Film. Er zeigt, wie aus einem banalen Streit ein Konflikt zweier Mafia-Gangs immer weiter eskaliert. Schnell wird dieser Gangsterkampf sinnlos, spielen weder Profit noch Ehre eine Rolle, sondern alles mutiert zum Abnutzungskrieg, der bis zum bittren Ende geführt wird. Nihilismus pur: Kitano radikalisiert die Selbstzerstörungstendenzen unserer Gegenwart und kritisiert sie dadurch.

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Jeder Film von Alejandro González Iñárritu, der 2001 mit "Amorres Perros in Cannes debütierte, war bisher schlechter als sein Vorgänger und "Biutiful" macht keine Ausnahme: Inzwischen liefert er die Leidensgeschichten schon übereinander gestapelt, sonst hätten sie in seinen Filmen keinen Platz: Javier Bardem verzückt zwar nicht nur den weiblichen Teil des Publikums. Er spielt einen katalanischen Geschäftsman, der mit allem handelt, was ihm unter die Finger kommt und dabei seine Seele längst verloren hat: Ein alles in allem träge inszeniertes, erzkatholisches Melodrama über Verbrechen, Sühne und Sterblichkeit, professionell inszeniert, stilistisch aber glattes Kunstgewerbe.

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Das große Ereignis der letzten Festivaltage war aber die Rückkehr von Jean-Luc Godard an die Croisette. Zwar hatte der Nouvelle Vague-Meister, der im Dezember 80 wird, seinen Besuch kurzfristig abgesagt, sein neuer Film entschädigte aber für alles: Im Stil eines Bewusstseinsstroms ist "Film Socialisme" eine geschichtsphilosophische Zeitreise von der Antike bis zur Gegenwart. Sie kreist um das kulturelle und politische Erbe Europas, verbindet viele vorgefundene Bilder - von alten Wochenschauen und Kinofilmen, wie Dokumentstücke - mit inszenierten Szenen. "Quo Vadis Europa?" ist die Leitfrage, das antike Griechenland, das Ägypten der Pharaonen, Odessa, Barcelona und Neapel - also das Mittelmeer als der Geburtsort von Demokratie und Menschenrechten - bilden die räumlichen Eckpunkte dieses Films, der ganz bewusst ein Essay sein will, keine Handlung erzählen. Der Regisseur bietet darüber hinaus Lesehinweise wie Balzacs "Verlorene Illusionen" und Texte von Andre Gide oder Nagib Mahfus.
Godard ist auch ein Filmemacher, der sich nie um klare Aussagen herumgedrückt hat: "Ideen trennen, Träume bringen zusammen" lautet eine davon, eine zweite: "Der Traum des Staates: Eins sein", der Traum der Menschen: "Zwei sein". Auf die Frage nach einem "Programm" findet man den Traum eines alten Mannes: "20 Jahre alt sein, recht haben, sehen statt lesen."
Ob sich diese Zukunft im Europa von heute findet? Die Filme in Cannes ermuntern zur Skepsis.

Samstag, 15. Mai 2010

Die lieben Kollegen und das Festival der niedrigen Erwartungen

"Der Blick auf die schönste Bucht der Welt"- Cannes 2010-Blog, 3. Folge


Von Rüdiger Suchsland

Es beginnt ein Festival der niedrigen Erwartungen. Cannes ist zwar, da muss man gar nicht drum herum reden, das wichtigste Filmfestival der Welt, und eines der schönsten überdies. Aber ein seltsames Startgefühl hängt wie Mehltau über den ersten Tagen. Neben dem latenten Krisengefühl liegt das wohl am Eindruck, den das Festival in diesem Jahr macht, wenn man nur vom Programm ausgeht: Im letzten Jahr sah man hier Haneke, Tarantino, von Trier, Coppola und viele derartige Legenden zu Lebzeiten mehr. "Das war so, als ob Marx, Engels, Lenin und Stalin auf einmal da waren." meint Jeroen, der Kollege vom recht anspruchsvollen niederländischen "Filmkrant" [http://www.filmkrant.nl/av/org/filmkran/home.html], ohne allerdings zu präzisieren, wen er denn für den Stalin des Kinos hält. Genau genommen sieht das Programm diesmal soviel unscheinbarer auch gar nicht aus.
Trotzdem: Der Gesamteindruck hat etwas Diffuses, zumindest an der Oberfläche. Am ersten Abend trank ich dann noch zwei, drei Bier mit den befreundeten Kollegen Josef Schnelle ("kultur heute" beim deutschlandfunk) [http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/] und erwähntem Jeroen, die meinen Eindruck teilen. Wir alle haben natürlich noch keinen Film gesehen, und wetten dann spontan nach "der Papierform", sprich unseren subjektiven Erwartungen nach gemeinsamer Kataloglektüre, wer in zwölf Tagen die Goldene Palme bekommt. Jeroen tippt auf Alejandro González Iñárritu, der sei einfach mal fällig. Jupp auf Apichatpong Weerasethakul. Ich glaube an beides nicht, da beides zu offensichtlich die Weltkino-Fraktion oder die Parteigänger des Hardcore-Kunstkinos befriedigt. Mein Tip: Kornél Mundruczo. Auch radikales Arthouse, aber der hat einen Frankenstein-Film gemacht, und das könnte dann Jury-Präsident Tim Burton gefallen.

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Später gibt noch Carlos von "kino kino" [http://www.br-online.de/bayerisches-fernsehen/kino-kino/index.xml] seinen Senf dazu: Auch er tippt auf Iñárritu und lästert dann über die Jury-Pressekonferenz am Mittag: Die hätten alle nichts zu sagen gehabt. "Ich weiß gar nicht, wie die sich die Filme angucken. Wie man etwas auf der Leinwand rezipiert, hängt ja vom emotionalen Status ab." Allein Kate Beckinsale habe offenbar "ja immerhin noch was erlebt." Auf meine Frage, ob Beckinsale denn wohl was zu sagen hätte, und eine interessante Interviewpartnerin wäre: "Von den Schießbudenfiguren war sie wahrscheinlich die hellste."
Niedrige Erwartungen können gut sein. Solange sie nicht eingelöst werden.

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Die lieben Kollegen. Da sind sie wieder. Der Redakteur, der eine neue Brille hat, und mich deshalb seit Jahren erstmals wieder freundlich grüßt. Die Redakteurin, die Nichtraucherin ist, aber immer - "nur in Cannes und nur bei Dir" - meine Zigaretten schnorrt, so viele, dass ich schon immer extra Packungen aus Deutschland mitnehme, denn PS gibt es hier nicht. Der smarte Schönling vom Hamburger Boulevard, der keine Filme guckt, aber pro Film vier Interviews mit "Stars" führt und entsprechenden tiefen Fragen. Damit er das überhaupt schafft, hat er seine Frau dabei, die unter seinem Namen auch Interviews führt - böse Kolleginnen lästern, dass sie eher dabei ist, damit er nicht fremdgeht. Die drei schnöseligen Nobelkritikerinnen, die fast immer gemeinsam unterwegs sind, und nur wenige, auserlesene männliche Gäste dulden. Und natürlich Mr. Cannes, der immer Thierry sagt, wenn er Fremaux meint, um seine Nähe zu demonstrieren. Die deutsche Filmkritik ist in klare Fraktionen und Freunderlsgrüppchen gespalten und über deren Grenzen wird kaum miteinander geredet, dafür wirft man sich Blicke zu, die wenig freundlich sind. Da wirken die Ausländer auf den ersten Blick - "von außen" halt - entspannter.

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Vielleicht zu entspannt. Im Kino heute alle 30 Sekunden lautes Stöhnen vom Hintermann. Schon erstaunlich, was die Leute im Kino für Geräusche von sich geben.

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Eröffnung der Sektion "Un Certain Regard", die in diesem Jahr besonders interessant wirkt. Thierry Fremaux begrüßt den portugiesischen Regisseur Manoel de Oliveira, der dieses Jahr 102 wird. Riesenapplaus im Saal. Bekommt Oliveira den Applaus dafür, dass er noch lebt, oder dass er so alt geworden ist? Oder ist das wirklich ein Applaus für den Filmemacher? Man zweifelt ein wenig, weil dies bestimmt keine Filme für die Mehrheit der Cannes-Besucher sind. Oliveira kommt dann auf die Bühne, zwar mit Stock, aber helfen lassen will er sich nicht. Er wirkt elastisch und fit, wie einer, der Anfang 60 ist. Dabei könnte er der Vater des kürzlich verstorbenen Werner Schroeter sein.

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Sein Film "O estranho caso de angelica" ist dann wie erwartet: Eine Geistergeschichte, nicht schlecht, aber arg hölzern inszeniert und in jeder Hinsicht demodée. Immerhin bleibe ich drin, während mich "Tournée" schon nach 15 Minuten wieder vertrieb: Die Regiearbeit des großartigen Mathieu Amalric ist dann genau so, wie man sich den Film eines Schauspielers vorstellt: Überdrehte "Spielfreude", überkandidelt und bunt, völlig sinnlos, eine Story über das Theaterleben, die zu nichts führt. Die Kollegen hatten mich schon vorgewarnt. Warum müssen Schauspieler auch immer Regie führen?

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Dafür, dass wir dann nicht zu sehr in künstlerische Höhen abhoben, sorgte ein Autor der BILD-Zeitung, der, ohne zu wissen, dass wir Deutsch verstehen, neben uns ins Telefon zunächst von "der Hassliebe zwischen Frankreich und England" schwadronierte "und Ridley Scott hat ja auch ein großes Haus in der Bretagne", und dann diktierte, was wirklich wichtig ist, in Cannes: "Nie gingen mehr Menschen ins Kino. Absatz. Filme sind die großen Mythen unserer Zeit, verzaubern uns in zwei Stunden. Ausrufezeichen. Der Blick auf die schönste Bucht der Welt. Wieviel Yachten der Milliardäre schwimmen unter dem glühenden Sonnenuntergang. Fragezeichen. Über 50. Ausrufezeichen. Letztes Jahr, Starrummel Klammer Inglourious Basterds mit Brad Pitt, Angelina Jolie, Til Schweiger - und Christoph Waltz, Klammer zu. Punkt Hat die Finanzkrise Cannes erreicht. Fragezeichen. Ja. Es gibt weniger Partys…"

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Gerade eben noch Hanns Georg Rodek von der "Welt" getroffen: Er läuft heute ausgerechnet mit Berlinale-Sweat-Shirt durchs Festival, und darauf einen "V For Vendetta"-Aufdruck. Ein Statement? Er verneint, und verweist auf seine Erkältung. Auf die Frage nach seinem Favoriten sagt er nicht nur, dass für "Apichatpong der Preis zu früh" kommt, sondern antwortet klipp und klar: "Keine Ahnung, wer gewinnt." Weil er damit auch nicht unglücklich wirkt, ist das vielleicht gar keine schlechte Haltung.

Freitag, 14. Mai 2010

Gier ist Gesetz

Oliver Stones "Wall Street"-Fortsetzung in Cannes gefällt, lässt aber Wünsche offen - Cannes 2010-Blog, 2. Folge
Von Rüdiger Suchsland

"Ich bin mir unsicher, ob der Kapitalismus in seiner derzeitigen Form überhaupt funktionieren kann." Es war ohne Frage der Auftritt des Tages: Sichtlich genoss der US-Regisseur Oliver Stone ("Natural Born Killers") am Freitag in Cannes die Aufmerksamkeit der Weltpresse - ohne übertriebene Eitelkeit, aber gewohnt selbstbewusst, mit einem Hang zu längeren Grundsatzerklärungen und doch zugleich interessiert an intelligenten Fragen und niveauvollem Austausch (und so braungebrannt, als habe er die vergangenen Wochen bereits in Südfrankreich oder unter der Sonnenbank vorgebräunt), stand er nach der Premiere seines neuen Films "Wall Street 2 - Money Never Sleeps" Rede und Antwort. Konzentriert und energiegeladen ging es da natürlich um weit mehr als um einen Kinofilm: Es ging um die weltweite Finanzkrise, Korruption und Bereicherung der Banker, das Versagen der Politik und die Zukunft des westlichen Wohlstands: "Wir scheinen alle wie besoffen zu sein", so Stone, "1987 dachte ich, das System würde sich selbst korrigieren. Aber alles wurde noch viel schlimmer."

"Wall Street 2" bietet zuallererst ein Wiedersehen mit Michael Douglas in einer seiner bekanntesten und besten Rollen: der des Finanzhais Gordon Gekko. Gekko, der gegen Stones Absicht mit seinen schamlosen Sprüchen - "Gier ist gut" - für manche Broker in den letzten Dekaden zu einem Idol wurde, erscheint hier allerdings als Geläuterter. Ein Veteran aus der Vergangenheit, als Kapitalismus noch Marktwirtschaft hieß, und man nur Geld verdienen konnte, wenn man etwas produzierte. Die besten Szenen des Films sind denn auch jene, in denen Stone ein satirisches Panorama des Finanzbetriebs bietet, in denen Gekko und einige andere Charaktere im Film das Tun der heutigen Börse erklären, und in denen der Film en passant ein paar Abläufe während der Finanzkrise 2008 erklärt. Harsche Aussagen fallen da, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen: "War Gier früher gut? Heute ist Gier Gesetz"; "Spekulation ist die effektivste Massenvernichtungswaffe"; "Wie definiert man Geisteskrankheit? Wenn man das Gleiche wieder und wieder tut und ein anderes Ergebnis erwartet. Wie die Börsen." Hier spricht ohne Frage auch der Regisseur selber. Er zeigt die heutige globale Wirtschaft als eine Welt des "Steroid Bankings", in der Maschinen entscheiden, und sich ein "bankrottes Geschäftsmodell" "wie Krebs" ausbreitet. Hier ist der Film provokativ, hat aber einige argumentative Substanz zu bieten. Und in diesen Passagen ist er auch gut gemacht. Zu lange allerdings wartet man, bis auch Gekko wieder seine andere, gierige Seite zeigen darf. Jene kurzen Passagen gehören denn auch zu den besten des Films.

Zugleich sieht man dem Film jederzeit an, wie fasziniert Oliver Stone selbst von dieser Welt ist, die er in Form einer präzisen Sozialstudie zeigt und anklagt, von ihrer Energie, von dem Stil der Machokämpfe und des "hardtalk", den schönen Frauen, teuren Gemälden und Luxusappartements, die auch zu ihr gehören. So ist "Wall Street 2" zugleich deutlich von der Lust an seinem Gegenstand geprägt - was Stone dann mit viel Moralismus sozusagen überkompensiert. So bleibt die Rahmenhandlung über einen begabten jungen Broker (Shia LaBoef), der als Gekko-Schwiegersohn in spe mit diesem einen Komplott gegen einen alten Feind schmiedet, überaus blass. So recht entscheidet sich der Film nicht zwischen Satire, Pamphlet und Moral-Kantate - mit dem Ergebnis, dass er am Ende ein wenig zwischen allen Stühlen zu sitzen scheint.
Während "Wall Street" 1987 klar von der Faszination für den bösen Broker bestimmt war, wie Shakespeares "Richard III." von der für den bösen Herrscher, wirkt dieser Film eher wie ein "King Lear": Das Drama eines alternden Vaters, der aus Fehlern lernt, inszeniert vor der Kulisse allgemeinen Untergangs - wofür dann die Börsensatire auf der Strecke bleibt.

Lange Zeit hatte sich Stone übrigens einer Fortsetzung von "Wall Street" verweigert. Schon weil er der Ansicht war, mit dem Film alles zur Natur des Finanzmarkts, und zur speziellen Amoral der Wirtschaft gesagt zu haben. Doch 2006 fragte ihn Michael Douglas persönlich, und dies war auch deshalb ein guter Zeitpunkt, weil Stone nach zwei weniger erfolgreichen Spielfilmen wieder einen Hit brauchte, um im Geschäft zu bleiben: "Die Zeit war gekommen", so Stone am Freitag, bevor er den Film abends gemeinsam mit seinen Hauptdarstellern feiern ließ.

Donnerstag, 13. Mai 2010

Gladiator on the beach

Don't print the legend! Ridley Scotts "Robin Hood" eröffnet Cannes, weiß aber nicht recht, was er mit dem britischen Sozialrebellen überhaupt anfangen soll - Cannes 2010-Blog, 1. Folge
Von Rüdiger Suchsland

Robin Hood kann alles, macht alles, sogar Bäume hochlaufen. Er fechtet, spaltet mit Pfeil und Bogen Pfeile in der Mitte, ist lustig, verführt adelige Fräuleins, trägt Strumpfhosen und freche Filzhütchen mit Vogelfeder und spaziert am liebsten im Wald. Zumindest tut er das in den geschätzt etwa 50 Verfilmungen des Stoffes vor Ridley Scott. Unter anderem Douglas Fairbanks, Errol Flynn und Kevin Costner spielten den Sozialrebellen und Rächer der Enterbten.

Bei Ridley Scott spielt ihn Russel Crowe, der vieles kann, den man sich aber als flinken Waldgänger dann doch nicht vorstellen kann. Bei Scott trägt er ein Kettenhemd und müht sich ab mit einem schweren Schwert, der Waffe der adeligen Ritter, während Pfeil und Bogen ihn eigentlich als Mann des Volkes ausweisen. Lady Marian spielt Cate Blanchet arg damenhaft, vor allem dafür, dass sie tagsüber selbst auf dem Feld arbeiten muss, und wenn man ehrlich ist, kann einem Blanchets wichtigtuerisch staatstragendes Spiel schon gewaltig auf die Nerven gehen. Hier wirkt sie, als stünde sie gleichzeitig neben dem Film, und ziele überdies darauf, sehr bald die Nachfolge von Meryl Streep anzutreten.

Trotzdem: Rund eine Stunde lang macht Ridley Scott fast alles richtig. Da ist sein Film ein pralles Panorama des Mittelalters zur Zeit des Dritten Kreuzzugs, und wirkt eher wie eine Fortsetzung von Scotts Kreuzfahrerfilm "Kingdom of Heaven". Man sieht, wie seinerzeit eine Burg eingenommen wurde, man sieht Kämpfe im Wald, Bootsüberfahrten, das Leben des eher verarmten Landadels. Das ist extrem plastisch und sinnlich und realistisch, ohne Glamour: Ritter im Schlamm, man glaubt, den Dreck riechen und die Feuchtigkeit fühlen zu können. Erkennbar auch Scotts Interesse für Militärtechnik, das man schon in früheren Filmen - von "Gladiator" bis "Black Hawk Down" - bewundern konnte. Ridley Scott, auch schon bald 72, hat Sinn für Geschichte, und das heißt für Details. Erstaunlich auch, mit wieviel Energie er bei der Sache ist - ein Film, dessen Druck nie nachlässt, und doch erfüllt von der Lust an Einzelheiten, kleinen stimmigen Details: Etwa das London des Jahres 1199. Oder der Sherrif von Nottingham, der hier völlig heuntergekommen ist, arm, unwichtig - kleine, dreckige, einfache Verhältnisse. Oder dem inmitten der Schlacht wiederkehrenden Ruf "Protect the king", worauf dann die Ritter sämtliche Vorsicht über den Haufen werfen, nur noch um die Sicherheit des mitunter blindlings stürmenden Herrschers bemüht.

Mit der bekannten Robin Hood Legende hat das alles nicht mehr viel zu tun. Ridley Scott, nicht Nachfahr von Walter, macht es anders. Bei ihm ist Richard Löwenherz fett, gealtert, frustriert, ausgebrannt aus dem Morgenland zurückkehrend, sich der eigenen Ehrlosigkeit nur zu bewusst. In Frankreich raubt er Burgen aus, um an Geld zu kommen, und um Beute für seine Soldaten zu machen. "One more castle to sac, then we are home to England."
Dann wird er bei einer Schlacht getötet. Auftritt Eleanore d'Aquitaine, die Mutter, und sein Bruder Johann Ohneland. Kein König in der Geschichte scheint so gezeichnet für alle Zeiten, wird so verachtet für seine Nichtswürdigkeit. Auch hier ist er ein belockter Decadènt, der sich nur für seine neue Frau Isabella von Angouleme interessiert. Diese war nun auch eine historisch interessante Figur, zu jenem Zeitpunkt allerdings erst 11 Jahre alt. Überhaupt nimmt sich Scott dafür, dass er sich auf der Objektebene um so viel Exaktheit bemüht, auf der Erzählebene bemerkenswerte historische Freiheiten.

Robin Hood selbst, Gefolgsmann im Heer, wird durch einen Zufall Besitzer der Krone, die zurück nach England soll, bringt sie dorthin, wird für den - eigentlich verstorbenen - Adeligen Richard Locksley gehalten und später dann von dessen Vater und Frau als dieser akzeptiert - eine schöne Weise, jene zahlreichen Geschichten aufzugreifen, in denen "falsche Ehemänner" aus dem Krieg heimkehren, oder Heimkehrer sich als Ehemänner ausgeben.

Dieser Robin schießt in der zweiten Hälfte des Films gerade noch einmal einen Pfeil ab, spaltet im ganzen Film nicht einen einzigen. Stattdessen mutiert er zum Helden eines nationalen Befreiungskampfes, dann wieder in einen Akteur im Kampf des Adels um verbriefte Rechte. Und kämpft schließlich auf dem Strand gegen französische Invasoren. Das sieht ein wenig so aus, wie "Elizabeth", vor allem aber wie "Gladiator", "Gladiator on the beach" sozusagen.

Schon zuvor hat ihn Scott im Insert zu Beginn als Outlaw-Freiheitshelden vorgestellt, "in years of tyranny… the outlaw takes his task", später redet er klug über Freiheit und "Man baut ein Land wie eine Kathedrale: Von den Fundamenten zur Spitze."

Insgesamt ist das Bild aber höchst uneindeutig. Einerseits ist dieser Robin ein Überlebenskünstler, erzählt Scott vom Aufstieg eines einfachen Mannes. Zugleich ist er traumatisiert: Vom Tod des Vaters und der Teilnahme an einem Massaker im Krieg. Wie der "Gladiator" ein verlorener Charakter, dem hier aber Heimkehr und Erlösung vom Trauma vergönnt sind. Ähnlich zwiegespalten ist Scotts politische Agenda. Er entscheidet sich für keine Positionierung seines Helden, nimmt in Kauf, dass dessen Darstellung in sich widersprüchlich ist: Gerade die Position des Adels ist zwar bereits bei Walter Scott doppeldeutig. Robin Hood heißt dort Locksley, doch der Adel steht für die Erniedrigung des Volkes. Plötzlich ist der Adel nun selbst Opfer und Robin ein konservativer Revolutionär, einer, der das Rad zurückdrehen will.

Irgendwie ist der Film gegen die Neoliberalen, den Finanzadel. "There are wolves in York." So erklärt der Euro-Nationalismus sich selbst derzeit auch, was Wall Street mit unserer schönen Währung macht. Aber irgendwie ist der Film doch auch gegen den Staat, der zum eigentlichen Ausbeuter erklärt wird, und gegen Besteuerung, als wäre Robin Hood der Guido Westerwelle des Mittelalters.

So mischt Scott alles, was ihm einfällt, zu einem Gebräu, das noch schwerer im Magen liegt als der Met von Friar Tuck: Feuer auf der Karte, wie in "Bonanza", Aufstandsstimmung, das Leitmotiv des schwachen Herrschers, dann England am Boden, ein bisschen "Patriot" reloaded, dann die zwei Wirtschaftsweisen, die böse der Ausbeuter und die gute des Säens und Erntens.

Der einzige echte Sozialrebell ist ein böser Schurke, der einmal den Robin-Hood-Satz sagen darf: "No one deserves 4000 acres." Genau! Ansonsten gilt: Sozialrebellen? Fehlanzeige.
Die Bösen haben ein gezeichnetes Gesicht, durch Narbe, und eine Glatze. Warum gilt ein Glatzkopf immer als böse? Und wenn sie Herrscher sind, wie der französische König Philip Augustus, dann essen sie Austern mit etwas Blut, was den König mit genug Verworfenheit und "décadence" markiert. Das ist alles etwas plakativ. Aber ohne echte Wucht und Provokation, wie es noch "Gladiator", Scotts düstere Wagner-Version des amerikanischen Eroberungskrieges hatte.

Ganz am Ende dieses Films, der wie ein Prequel aller denkbarer Robin-Hood-Filme anmutet, heißt es dann: "And so the legend begins."