Sonntag, 24. Mai 2009

Die Filmpreise von CANNES 2009

Goldene Palme (Palme d'or): DAS WEISSE BAND (THE WHITE RIBBON) von Michael HANEKE

Großer Preis der Jury (Grand Prix): UN PROPHÈTE (A PROPHET) von Jacques AUDIARD


Beste Regie (Prix de la mise en scène): Brillante MENDOZA für KINATAY

Bestes Drehbuch (Prix du scénario): LOU Ye für CHUN FENG CHEN ZUI DE YE WAN (Spring Fever)

Beste Darstellerin (Prix d'interprétation féminine): CHARLOTTE GAINSBOURG ("Antichrist")

Bester Darsteller (Prix d'interprétation masculine): CHRISTOPH WALTZ ("Inglorious Basterds")

Preis der Jury (Prix du Jury): FISH TANK von Andrea ARNOLD und BAK-JWI (THIRST) von PARK Chan-Wook


Preis für das Lebenswerk: Alain RESNAIS

Goldene Palme – Bester Kurzfilm (Palme d'or du court métrage): ARENA von João SALAVIZA


Short Film Special Distinction: THE SIX DOLLAR FIFTY MAN von Louis SUTHERLAND

Goldene Kamera – Bester Debütfilm (Prix de la Caméra d'or): SAMSON AND DELILAH von Warwick THORNTON


Caméra d'Or - Special Distinction: AJAMI von Scandar COPTI


Un Certain regard: "Dogtooth" von Yorgos LANTHIMOS



Am Sonnabend, den 23.5.09 wurden die ersten Preise des Festivals vergeben. "Das weiße Band" von Michael Haneke gewann den Preis des internationalen Verbandes der Filmkritik FIPRESCI.


In der Nebenreihe "Directors Fortnight" gewann der Debütfilm des kanadischen Regisseurs Xaviers Dolan "I Killed My Mother" gleich drei Preise.


Die Österreicher Rainer Frimmel und Tizza Covi wurden für ihr Werk "La Pivellina" mit dem "Europa Cinema Prize" ausgezeichnet.


In der Nebenreihe "Critics Week" gewann das Sozialdrama "Adieu Gary" des französischen Regisseurs Nassim Amaouche den Hauptpreis "Le Grand Prix de la Semaine Internationale de la Critique".


Mehrere kleine Preise erhielt der irakische Beitrag "Whisper with the Wind" von Shahram Alidi über einen Postmann in den Bergen Kurdistans.

Liebe macht blind

Mussolini kann immer und überall: Marco Bellocchio wühlt in den Betten von Italiens Diktator

Von Rüdiger Suchsland

"Il Duce", der Duce, das geht den Italienern bis heute noch wesentlich leichter über die Lippen als die meisten Deutschen auf den Gedanken kommen würden, familiär vom "Führer" zu reden, wenn wir Adolf Hitler meinen.

In Form eines Familienmelos hat sich nun auch Marco Bellocchio des Duces angenommen. Bellocchio ("Der Teufel im Leib", "Buongiorno Notte"), Angehöriger der Generation der Achtundsechziger, gilt als Linker, aber in Italien heißt das nicht viel: Weder sind die Linken dort automatisch geschmackssicherer, noch haben sie mehr Sinn für politische Fettnäpfchen. Wie Bellochios "Vincere" beweist.

Dabei ist die Geschichte seines Films interessant. Basierend auf historischen Fakten, die vor allem Alfredo Pieronis Buch "The Secret Son of Il Duce: The Story of Albino Mussolini and His Mother Ida Dalser" und Marco Zenis "Mussolini's Wife" offenlegte, erzählt Bellocchio von der heimlichen Zweitfamilie von Italiens Diktator Benito Mussolini.

Ida Dalser hieß jene junge Dame aus vornehmem Haus, die 1914 den jungen Mussolini in Mailand kennenlernte, als er noch als radikaler Sozialist die Partei-Zeitung "Avanti!" herausgab, was ihn allmählich in der politischen Landschaft Italiens bekannt machte. Dalser verliebte sich Hals über Kopf. In den nächsten Monaten steckte sie ihr ganzes Vermögen in die Finanzierung der Zeitung "Il Popolo d’Italia", die Mussolini gründete, nachdem er wegen seiner Unterstützung von Italiens Weltkriegseintritt von den Sozialisten ausgeschlossen wurde - ein zentrales Element für den politischen Aufstieg Mussolinis und der Faschisten. 1915, Mussolini war an der Front, wurde der gemeinsame Sohn Benito Albino geboren.

Bereits seit 1914 war Mussolini aber verheiratet. Die Parallelfamilie verbarg er über zwei Jahrzehnte, um seine politische Karriere nicht zu gefährden. Später dann ließ er Dalser und den gemeinsamen Sohn ins Irrenhaus stecken, wo sie unter traurigen Umständen starben.

"Der Mussolini, den ich zeige, ist nicht der gütige pater familias, dessen einziger Fehler es war, sich mit Hitler zu verbünden, als der er manchmal in unserem Fernsehen gezeigt wird." sagte Bellocchio dem "Corriere della Sera", "er ist ein gewälttätiger, berechnender, gnadenloser Mann - selbst gegenüber der Frau, die er liebte und gegenüber seinem eigenen Sohn."

Bellocchio erzählt das Ganze aber leider vor allem im Stil einer Daily-Soap als kitschige Märtyrergeschichte. Langweilige Fernsehbilder, Schnitt-Gegenschnitt-Dialoge, Kulissenschieberei, das Ganze unterstützt durch immense Mengen von illustrierendem Dokumentarmaterial, die den Film mehr zerstückeln als gliedern. Vor allem aber interessiert er sich überhaupt nicht für die politischen Vorstellungen seiner Heldin. Deren Motivation war, glaubt man dem Film, allein ihre sexuelle Abhängigkeit von dem überaus potenten und allzeit bereiten Diktator. Der Duce kann immer und überall, und da schaltet sich der Restverstand der politisch mindestens naiven Bürgerdame schnell aus. Damit reproduziert Bellocchio eher den Mythos des Duce, den er doch eigentlich demontieren möchte. Schon klar, dass "Vincere" von der sinnlichen Faszination des Faschismus, von seiner oft verdrängten sexuellen Komponente handeln möchte, der sich die Italiener schon des öfteren - Lina Wertmüllers Filme und in zahlreichen B-Movies (vgl. dazu Marcus Stigleggers Buch "Sadiconazista - Sexualität und Faschismus im Film der siebziger Jahre bis heute") gewidmet haben. Aber was dann auf der Leinwand vor allem bleibt, ist die offene Identifikation des Regisseurs mit dem kommenden Diktator, wenn es um die Geilheit auf Frau Danser, bzw. ihre Darstellerin Giovanna Mezzogiono geht.

Samstag, 23. Mai 2009

Der große und der kleine Tod

Gaspar Noés filmischer Drogentrip "Enter the Void"

Von Rüdiger Suchsland

Fast ganz am Schluss gibt es dann ein bisschen Porno, etwa ein halbes Dutzend Varianten japanischer Sexspiele und Point-of-view-Kameraeinstellungen von einer europäischen Frau beim Geschlechtsverkehr.

Davor warten allerdings ganz andere Herausforderungen auf den Zuschauer... "Tokio auf Acid" oder "Die Befreiung Tibets durch Meditation" könnte dieser Film auch heißen. Ein tibetanisches Totenbuch spielt in ihm eine wichtige Rolle, und das diesjährige Cannes-Zentralthema der Religion: "All the same: the catholic, the protestant, the jews, the buddhist..."

Man mag es kaum glauben, aber es ist wirklich schon sieben Jahre her, dass Gaspar Noé die Filmwelt, nicht nur die von Cannes, nachhaltig erschütterte. "Irréversible" hieß der Skandalfilm des schon zuvor als Skandalregisseurs bekannten und je nach Standpunkt gehypeten oder gefürchteten französischen Regisseurs. In dem Film wurde eine Frau in einem Tunnel unglaublich brutal und ziemlich lang vergewaltigt, und weil es so brutal war, machte es Skandal, und weil die Frau von Monica Bellucci gespielt wurde, waren die Medien hysterisch, und weil alles rückwärts und in erlesenen Bildern erzählt wurde, war es Kunst. Allerdings machten es die hysterischen Reaktionen mancher, unter anderem der deutschen Medien, Noé auch leicht, sich zum Opfer von Kunstbanausen zu stilisieren, und weil dann natürlich auch irgendwer - "neue Väter" vielleicht, oder alte Frauenrechtlerinnen - mit der Zensurforderung kam, musste man einen Film auch noch verteidigen, der einem dazu eher wenig Lust machte.

Seitdem hat sich Gaspar Noé ziemlich lang Zeit genommen, um über sein neues Projekt nachzudenken. Vielleicht hat er auch andere Dinge genommen, und nicht so sehr gedacht, sondern gefühlt oder sich vor allem treiben lassen, vom Strom des Seins, vom Sog des Lebens, von der Sexyness, nun ein weltweit bekannter Skandalregisseur zu sein.

Sein neuer Film "Enter the Void" hat ein wirklich schönes Presseheft. Neonfarben auf schwarzem Grund, ein paar schöne Fotos von einem Paar, das im Sonnenlicht sitzt, einer Frau und einem Mann in Tokio. Wenn der Film so schön wäre wie das Presseheft, würde er die Goldene Palme gewinnen. Das ist er nicht, aber er ist stark, sehr stark, gerade weil er zu seinem Wahnsinn steht, dazu, eine völlig subjektive Version der Wirklichkeit zu bieten, eine persönliche Sicht auf die Welt und das Dasein, also genau, was der Autorenfilm seit jeher will.

"Enter the Void" bedeutet soviel, wie "hinein in die Leere" und das darf man in diesem Fall wörtlich nehmen. Der Film nämlich ist vor allem einmal eine Leerstelle, allerdings eine, die zweieinhalb Stunden dauert, von denen fast jede Sekunde einzeln fühlbar wird. Das ist als Kompliment gemeint, denn wenn es überhaupt eine rationale Erklärung für diesen Film, oder besser gesagt eine Rationalisierung geben sollte, dann ist sie die, dass es dem Regisseur darum ging, ungesehene, nicht abgegriffene und angemessene Bilder für einen Drogentrip zu finden.

Die Droge, um die es hier vor allem geht - es geht auch ein wenig um jede andere, aber das würde die Dinge jetzt unnötig komplizieren - heißt DMT, und manche werden jetzt schon wissen, dass es sich um eine Party- und Schamamendroge handelt, über die Timothy Leary einiges geschrieben hat, eines der stärksten und extremsten Psychedelica, das oft mit spirituellen Einbildungen verbunden ist. wer DMT nimmt, kann im Rausch Gott "sehen" und andere Dimensionen. DMT wird im Gehirn kurz vor dem Todeseintritt ausgeschüttet und ist vermutlich die Quelle für alle gängigen Nahtoderfahrungen. Und um Nahtod geht es hier auch.

Die Bilder, die Noé für all das kreiert, sind nahe am Experimentalkino: Immer wieder mal schwurbelt die Kamera in Trance in ein Loch hinein, um aus einem anderen herauszukommen, einmal ist die Leinwand minutenlang weiß, sie blitz wie in einem "Flicker-Film". Zudem ist dies der erste Film, der etwa zu 50 Prozent von oben fotografiert ist. Wie der Blick eines besoffenen Engels blickt die Kamera auf die neonumleuchtete Stadt.

Was immer es noch sein sollte, dies ist letztendlich dann doch ein, wenn auch interessant gescheiterter Film. Denn er ist insgesamt zu undiszipliniert, zu größenwahnsinnig, von Selbsteingenommenheit triefend, todernst, dadurch unfreiwillig komisch. Wie die Phantasien eines Drogenumnebelten eben.

Am Ende guckt die Kamera dann aus dem Inneren einer leinwandgroßen Vagina und sieht, wie ein Penis in sie eindringt und ejakuliert. Dann begleitet man die ausgestoßenen Spermien auf ihrem Weg ins Innere des Körpers der Frau. Dann mal wieder Weiß, eine Geburt, das Zerschneiden einer Nabelschnur, Geburtsschreie... Offenbar hat Gaspar Noé beim Nachdenken was echt Wichtiges erfahren und uns das jetzt mitgeteilt.

Terry Gilliam im Spiegelland

Poesie gegen Prosa: Terry Gilliams durchgeknallte Fantasy: "The Imaginarium of Doctor Parnassus"

Von Rüdiger Suchsland

Noch ein "letzter Auftritt" von Heath Ledger, nun wirklich - nach Todd Haynes "I'm not there" und dem Joker in Christopher Nolans "Batman"-Spektakel "The Dark Knight" - der allerallerletzte, jedenfalls bevor es üblich wird, Darsteller per Animation wieder zum Leben zu erwecken, und Ledger dann auch mal mit Marilyn Monroe knutschen darf...

Es ist der neue Film von Terry Gilliam, dem Don Quixote, Lügenbaron und Märchenerzähler des Kinos ("Twelve Monkeys"). Er heißt "The Imaginarium of Doctor Parnassus" und könnte auch gleich "The Imaginarium of Doctor Gilliam" heißen. Ein typischer Terry Gilliam-Film, der alle seine Themen vereint und vieles zeigt, was man schon lange von Gilliam kennt. Etwas Neues zeigt er hier nicht wirklich, und er hat auch schon bessere Filme gemacht, aber nach der ersten, ziemlich zähen halben Stunde ist dies ein schöner, sehr unterhaltsamer Film - und der beste des unausgesprochenen Thementags der "durchgeknallten Filme" (es fällt auf, dass man hier in Cannes in diesem Jahr die Filme konsequent so programmiert, dass sie thematisch zusammenpassen): "Enter the Void" von Gaspar Noé und "Visage" vom Taiwanesen Tsai Ming-liang.

Die Anfangscredits sind in Spiegelschrift geschrieben, und es geht los mit "London, England", und dem Blick auf Obdachlose und eine altmodische Kutsche. Nun könnte gut eine Geschichte von Dickens beginnen, doch dann hört man shitty Techno-Klänge, sieht moderne Autos und begreift: Die Handlung spielt in der Gegenwart. Die Kutsche transportiert eine fahrende Bühne und von diesen ersten Minuten an ist der Film auch eine Feier des Kinos als Jahrmarktsvergnügen, seiner Ursprünge in billigen Sensationen, starken Reizen, dreisten Tricks, in der Bezauberung und Überwältigung des Publikums. Einmal fällt im Film der Satz: "There is no such thing as black magic. Only cheap tricks." Terry Gilliam erzählt dabei in seinem ersten eigenen Storyboard seit "Münchhausen" natürlich auch unbedingt viel über sich selbst, einen alten Geschichtenerzähler, dessen besondere Begabung darin liegt, jedem genau das zu bieten, was er sucht und bekommen will.

Dieser Doctor Parnassus, so stellt sich heraus, ist unsterblich, er erzählt nicht irgendeine Geschichte, sondern "the eternal story". Und sein ständiger Gegenspieler ist, mal wieder muss man sagen bei diesem Filmfestival, der Teufel. Gespielt von einem wunderbaren Tom Waits als zigarrenkauendem, melonetragendem Chicago-Boy will er den Erzählfluss stoppen und das "Ende der Geschichte" bewirken - wer das nicht auch als Metapher auf den Neoliberalismus und Gilliams private Geschichtsphilosophie begreift, unterschätzt Terry Gilliams Interessen wie seine Intelligenz. So ist dies auch eine politisierte Fantasyversion des "Faust", nur dass der Kampf zwischen Parnassus und Teufel, zwischen poetischem Geschichtenerzähler - "You can't stop stories beeing told." - und prosaischem Bilanzenverkünder ewig ist.

Auch des Parnassus' geheimnisvolles "Imaginarium" ist nicht ganz von dieser Welt, inmitten des kunterbunten, schrillen Jahrmarktsklimbim verbirgt sich vielmehr ein Spiegel, der das Eingangstor in ein Zauberreich bildet.

Nun: Auftritt Heath Ledger. Ausgerechnet als Gehenkter, an einem Seil unter einer Themse-Brücke baumelnd. Er wird wiederbelebt, oder besser: gerettet, und belebt nun auch die abgetakelte Theatertruppe des Parnassus, zu der dessen jungfräuliche Tochter, ein Zwerg, und der Jüngling Anton gehören. Was es genau aber mit diesem Tony auf sich hat, weiß keiner, man weiß nur, dass er von der Russenmafia verfolgt wird. Während Parnassus und seine Tochter ihn ins Herz schließen, gilt er den anderen nur als "Rattlesnake".

Stilistisch ist der Film von Anfang bis Ende überbordend. Eine verkitschte LSD-Phantasie, ein wild-chaotisches Spiel mit Zitaten und Versatzstücken, überraschend nahe an der Seventys-Ästhetik der Monty-Pythons. Ledgers Tod inmitten des Drehs (durch Selbstmord oder Drogenrausch) hat dazu auch das Seine getan, und dem Film zusätzlich genutzt. Denn die "physischen Transformationen" der Tony-Figur, die in bestimmten Passagen des Films durch Johnny Depp, Jude Law und Colin Farrell gespielt werden, geben allem ein zusätzliches phantastisches Element - und Depp ist hier, nebenbei gesagt, ganz eindeutig viel viel besser, als Ledger.
Zugleich ist es makaber, wie sehr diese Rolle mit Todes- und Vergänglichkeitsmotiven spielt: ein Überspannter, Todesnaher, der noch zwei weitere Male als Tony/Ledger in diesem Film gehenkt wird und wieder aufersteht - bevor er endgültig sterben muss.

Zugleich ist "The Imaginarium of Doctor Parnassus" noch etwas ganz anderes: Eine Satire aufs "Cool Britannia"-London der "New Labour"-Ära Tony Blairs: Es geht um Materialismus, der Film macht sich über saufende Yuppies genauso lustig wie über Desperate Housewives in den Shopping-Malls. Vor allem aber über Blair selbst. Denn Tony wird im letzten Drittel entlarvt als "Tony the Liar", als Millionär, der die Medien verzaubert, der sich gern mit dem Dalai Lama photographieren lässt, und über eine Kinderhilfsstiftung ein Charity-Business betreibt, das ihm vor allem viel Geld in die eigene Tasche spielt.

Ein guter Film. Hätte er nicht ein konformistisches Ende voller Spießerglücks-Phantasien und wäre die Kamera ähnlich phantasievoll wie der Rest, wäre er richtig groß.

Freitag, 22. Mai 2009

Kill Adolf

Die explodierende Leinwand - Quentin Tarantinos Kinder des Olymp: "Inglourious Basterds"

Von Rüdiger Suchsland

In "Inglourious Basterds" [Sic!], der weder der Kriegsfilm ist, als der er vermarktet wird, noch das Remake jenes italienischen B-Movies "The Inglorious Bastards" ("Ein Haufen verwegener Hunde") von Enzo G. Castellari aus dem Jahr 1978, macht Tarantino sich einen weiteren seiner Kinderträume wahr - und erfüllt uns damit auch einige uneingestandene Wunschvorstellungen.
Quentin Tarantinos Kino war schon immer Fetischkino, das dem Formalen unbedingt den Vorzug vor der Handlung gab, das dabei aber weder anti-erzählerisch noch unmenschlich wirkte. Und es war ein Kino des Transgressiven, der lustvollen Überschreitung des Erlaubten - und das heißt im Historiendrama auch: der historischen Wirklichkeit. Weil Tarantino das weniger subtil macht als seinerzeit Christopher Roth in "Baader", werden die Wächter der Archive diesmal auch nicht getroffen aufjaulen; sie werden einen Film wie diesen gar nicht der Beachtung wert finden - was ihn womöglich noch subversiver macht.
Zum einen ist der ganz als Studiofilm entstandene "Inglourious Basterds" [Sic!] in dessen Zentrum eine US-Eliteeinheit steht, die pro Mann "100 Naziskalps" erbeuten soll, damit nicht nur eine in den Stilmitteln des Italo-Western inszenierte Alternative zu all jenen kreuzbraven und erzlangweiligen Historiendramen, die besonders in Deutschland beliebt sind, die Beflissenheit in den Fakten mit historisch-politischem Eskapismus verbinden. Es ist auch ein Film, der noch einmal die Frage stellt - und zumindest teilweise beantwortet - wie man denn die Nazizeit darstellen könnte, ohne ihrer Ästhetik zu verfallen, wie man das Kino vor dem Nazi-Kino retten könnte. Natürlich weiß auch Tarantino, dass manche Filme des Dritten Reichs zwar politisch ekelhaft sind und man davon ihre Bildsprache auch nicht trennen kann, dass man aber zugleich um diese Bildsprache auch nicht immer herumkommt, und - und hier sind wir beim Fetischismus - nicht immer herumkommen will. Dabei ist Tarantinos Film, wie sein bisheriges Werk, dieser Bildsprache so ganz und gar nicht verpflichtet, viel weniger als zum Beispiel die Filme Fassbinders. Um so eher kann er sich leisten, ein paar mal offen mit ihr zu spielen.
Ansonsten sieht sein Frankreich mehr aus wie eine Westernlandschaft und sein Paris wie das Warschau in Lubitschs "To be or not to be". Und nur ganz spärlich ist der Umgang mit Hakenkreuzbinden und NS-Symbolik, kaum Stiefelschlagen und Uniform. Der Zitatcharakter bleibt hier im Übrigen immer deutlich, dieser Regisseur verfällt der Symbolik nie.

Und er braucht sie auch nicht, um die Schurken wirklich als Schurken zu zeigen. Der größte von allen wird hier von Christoph Waltz gespielt. Sein SS-Oberst Hans Landa ist eine Mischung aus Bürokrat und Dämon; ein boshafter Großinquisitor der Nazi-Macht. Ein toller abgründiger Auftritt, für Waltz die Rolle seines Lebens. Nun spielt Waltz nicht nur Brad Pitt an die Wand.
Vielleicht ist es überhaupt das Frappierendste an diesem Film, wie gut hier die deutschen Schauspieler sind. Offenbar muss erst ein Tarantino kommen, um ihre Fähigkeiten freizulegen, um einmal zu zeigen, was man mit diesen Schauspielern überhaupt alles machen kann, wenn man sie richtig inszeniert. Und er zeigt damit indirekt natürlich auch, wie vergleichsweise beschränkt die Fähigkeiten der allermeisten deutschen Regisseure sind.

Der Film ist episodisch erzählt, reiht zum Teil nur lose verbundene Szenen aneinander, ist im herkömmlichen Sinne undiszipliniert und unökonomisch - und darin die ganz Tarantino-typische Mischung eines Films, der zugleich Autorenkino und B-Movie ist. In der letzten halben Stunde bündeln sich die Erzählstränge zu einem Showdown, der seinesgleichen sucht: In einem Pariser Kino soll Hitler getötet werden, bei der Premiere eines Propagandafilms. Hinter der Propaganda verbirgt sich der Attentatsplan, und irgendwann, während der Film gezeigt wird, dreht er sich um 180 Grad, wird zur Antipropaganda, bevor, ganz wörtlich, die Leinwand in Flammen steht und explodiert. Das ist natürlich ein visuelles Statement gegen überhaupt jede Form des einfachen politischen Message-Kinos, es ist auch eine Forderung: Dass Filme eigentlich nur dann gut sind, wenn sie die Leinwand zum Brennen bringen, wenn sie voller Leidenschaft und Intensität das Publikum erbeben lassen.

Dann wird auch noch Adolf Hitler erschossen. Eine Maschinengewehrsalve zerschmettert sein Gesicht, bis es nicht mehr zu erkennen ist. Tarantino macht das, was nur die Kunst kann: Den Gang der Geschichte ändern, der Phantasie, den Wunschvorstellungen freien Lauf lassen.

Sein Film ist damit in allem DAS Gegenstück zum Stauffenberg-Drama "Valkyrie", kein beflissenes, depressives, graues Drama, bei dem man schnell vergisst, was eigentlich nochmal das Problem mit den Nazis war, sondern bunt und grell, so pervers wie die Nazis waren, eine kontrollierte Überschreitung der historischen Wirklichkeit, die diese dadurch um so sichtbarer macht. Denn dass man den Faschisten gerechter wird, wenn man sie als Monster und Bodysnatcher zeigt, als Unholde und Horrorgestalten in der Nachfolge des "Nosferatu"- und "Mabuse"-Kinos der Weimarer Republik statt als "Talking Killer" der Hollywood-Tradition, der seinem Jäger nur allzu ähnlich ist, das hat schon Guillermo del Toro in "Pans Labyrinth vorgemacht.

Das deutsche Kino traut sich trotzdem bis heute nicht zum Tabubruch und verbietet sich, uns den toten Hitler zu zeigen, das zerschossene Gesicht, den versehrten und damit zerstörten Polit-Mythos. Selbst in Bernd Eichingers "Der Untergang", der doch von Hitlers Ende zu handeln behauptet, gibt es zwar hunderte von Toten aber kein Bild des toten Hitler. Er bleibt unversehrt, und damit untot. Ein Wiedergänger der Geschichte, ein Zombie, der die Deutschen immer wieder heimsucht.
"Ich wollte Hitler töten" hat Tom Cruise auf der "Valkyrie"-Pressekonferenz gesagt. Tarantino hat es getan.

"Cannes, das ist der Gipfel des Kinos, der Olymp." schwärmte Tarantino dann bei der Pressekonferenz: "Ich bin kein amerikanischer Filmemacher. Ich mache Filme für Planet Earth. Und Cannes repräsentiert das." Es war ein denkwürdiger Auftritt, den der Independent-Star Tarantino, der vor 15 Jahren hier mit "Pulp Fiction" die Goldene Palme gewonnen hatte, nach der Premiere seines mit Spannung erwarteten "Inglourious Basterds" hatte.

Nicht Planet Hollywood also. Das war es, was Tarantinos Sätze an diesem Morgen so interessant machte: Dass sich hier ein Amerikaner sehr bewusst und sehr deutlich zum Weltbürger des Weltstaats Kino erklärte, dass er Stellung bezog gegen jene Dominanz des Marketing, des Geldes und des seichten Stargehabes, das Hollywood heute repräsentiert, und das die ganze Filmwelt infiziert hat. Außer Cannes: "Hier spielt Kino wirklich eine Rolle. Die Passion für Filmkunst. Es geht nicht um Geld und auch nicht um Stars - trotz Brad Pitt, der hier neben mir sitzt. Er ist der Diener des Films, nicht umgekehrt." Der Diener Brad Pitt lächelte dazu, nickte mit dem Kopf, und sagte die üblichen Hollywood-Sätze, wie gern er besonders mit diesem Regisseur zusammengearbeitet habe.

Sophie Marceau und Monica Bellucci verschmelzen

Das Ich ist eine Andere: Marina van Dans Neo-Noir-Horror "Ne te retourne pas" bei den Filmfestspielen von Cannes

Von Rüdiger Suchsland

Der nackte Rücken von Sophie Marceau ist das erste, was man sieht. Sie steht allein vor dem Spiegel, daneben an der Wand hängen Bilder aus früheren Zeiten. Wer die Karriere von Sophie Marceau verfolgt hat, der kennt ein paar davon. Und darum ist dieser Film, auch wenn Sophie Marceau hier Jeanne heißt, auch und nicht zuletzt ein Meditation über diese Schauspielerin, über ihre öffentliche Persona, ihre Wirkung und Schönheit, über ihre Inszenierung.
Man sieht ihr zu, wie sie sich fertig macht, wie sie sich abschminkt, wie sie sich betrachtet. es ist Nacht, gleich wird sie zu Bett gehen. Einmal ganz kurz sieht man sie, wie sie ihre Falten unter den Augen mit einem Foto von früher vergleicht.

Zunächst scheint der Film eine nicht mehr ganz junge Frau in ihrem Alltag zu begleiten. Wir erfahren: Sie ist erfolgreiche Journalistin. Jetzt hat sie einen Roman begonnen, der auf autobiographischem Material beruht. Ihr Vater, der Verleger ist, will ihr den Plan ausreden. Zu detailliert sei das Buch, sie finde keine Form. Wir erfahren: Jeanne hat keine Erinnerung an die Zeit, bevor sie acht Jahre alt war. Nun will sie ihre "Kindheit wiederfinden". Zuvor sah man sie in einem Zimmer des Verlags Hachette sitzen. Über sich Fotografien einiger der wichtigsten französischen Geistesgrößen: Sartre, Baudelaire, Foucault, Yourcenar, Rinbaud. Alles Autoren die in ihrem Werk die Zersplitterung des modernen Ichs in den Blick nahmen, und versuchten, diese Splitter auf ihre je eigene Weise wieder zusammen zu setzen. Kurz darauf sieht man wie zufällig Filmplakate von "Casablanca" und "Inland Empire", kleine klare Verweise auf die filmische Landschaft des Noir und Neo-Noir, in der dieser Film zuhause ist.

Was dann in den folgenden Minuten passiert, ist merkwürdig: Erste Irritationen nehmen schnell zu, Jeanne hat das Gefühl, die Möbel in der Wohnung sind anders gestellt, sie erkennt Unordnung, wo zuvor keine war, Dinge scheinen spiegelverkehrt, und ihr Mann und ihre Kinder scheinen Unbekanten Zeichen zu geben. Erst bleibt es noch in der Schwebe, dann geht der Film mit schnellen Schritten voran: Jeanne wird eine andere. Eine andere Frau kriecht unter ihre Haut. Und die Erfahrung des Zuschauers ist noch irritierender: Denn er sieht, wie aus Sophie Marceau Monica Bellucci wird, wie beide Starschauspielerinnen miteinander verschmelzen - technisch elegant gelöst mit bekannten Morphingverfahren, aber als Spiel mit Unverwechselbarkeit und Austauschbarkeit der Star-Image eine so ironische wie aufregende Erfahrung.

"Ne te retourne pas" heißt der neue Film der Französin Marina van Dan, der jetzt in Cannes in der Sektion "Un certain regard" gezeigt wurde. Der neue Film dieser Beobachterin spezifisch weiblicher Grenzerfahrungen ("Dans ma peau") handelt von Ichverlust, vom Gefühl plötzlich ein Fremder zu sein, überall nur Veränderung zu sehen. Die Wissenschaft hat dafür Begriffe, das Gefühl ist das des Nervenzusammenbruchs. Am Schluß wird
Das Geheimnis des Geschehens, das erwartbar in der Kindheit von Jeanne liegt, in den natürlich nicht grundlos vergessenen, sondern verdrängten ersten acht Jahren, wird am Ende enthüllt. Aber im Gedächtnis bleibt "Ne te retourne pas" weniger als solider und stilsicherer Neo-Noir in altmodischen 70er-Jahre-Atmosphären, den man eines Tages zumindest auf DVD wird in Deutschland sehen können. Sondern als ein Horrorfilm, bei dem wie zum Trost die Kamera immer wieder minutenlang auf dem schönen Gesicht von Sophie Marceau ruht.

Donnerstag, 21. Mai 2009

Zen-Meister Cantona

"I am not a man. I am Cantona." - Fußballstar Eric Cantona im neuen Film von Ken Loach in Cannes

Von Rüdiger Suchsland

Er heißt Eric, ist fanatischer Fan von Manchester United, und von Beruf Briefträger. Seit neuestem leidet er an Depressionen, und wer das Reihenhaus im tristen Arbeiterviertel von Manchester sieht, versteht, warum. Im Schrank stapeln sich Briefe, die er nicht ausgetragen hat. In der Betriebs-Psychogruppe, die es auch bei der britischen Post gibt, wird ihm und seinen Arbeitskollegen vorgeschlagen, sich ein Vorbild und Idol zu wählen. Eine illustre Runde kommt da zusammen: Ghandi, Mandela, Castro, Sinatra, Sammy Davis Jr. Eric wählt seinen Namensvetter, er wählt den Franzosen Eric Cantona, der von 1992 bis 1997 bei Manchester United spielte.

Das ist die Ausgangssituation von Ken Loachs neuem Film "Looking for Eric", der jetzt bei den Filmfestspielen von Cannes Premiere hatte. Ken Loach ist berühmt für politisch engagierte Arbeiterdramen aus liberal-trotzkistischer Perspektive. Das Hoch auf die Arbeitersolidarität gibt es auch hier, aber im Zentrum des Film steht die poetische Überschreitung der Wirklichkeit. Denn ManU-Fan Eric, der im Schlafzimmer ein lebensgroßes Poster seines Idols Eric Cantona an der Wand hat, raucht einen Joint zuviel, da steht Cantona plötzlich leibhaftig in seiner Küche. Es ist der Coup von Loach, dass es ihm gelungen ist, den Spieler im Ruhestand für die Leinwand zu reaktivieren, Cantona also dazu zu gewinnen, sich selbst zu spielen.

Cantona tut das mit einer Präsenz und einem Charisma, das alles andere hier in den Schatten stellt. Eigentlich ist "Looking for Eric" ein langweiliger Film, allzu leichte, seichte Kost, die längst bekannte Loach-Themen unoriginell variiert und wiederholt. Durch Cantona aber wird es großes Kino.

Cantona wird zum persönlichen Trainer der Hauptfigur, des Losers Eric, der diesen - wie einst Bogart die Woody-Allen-Figur in "Play it again, Sam" - mit Rat und Tat unterstützt. Bei Loach wirkt Cantona wie ein cool-relaxten Zen-Meister, der im Dutzend Weisheiten abfeuert wie "Without danger one cannot get beyond danger". Oder: "Surprise first. If they are strong on the right, you go left. But not always." Oder: "There is no such word as 'can't.'" Oder: "You have to trust your team mates. Always." Oder: "La plus noble de vengeance - c'est le pardonner." Am Ende des Films ist man überzeugt: "I am not a man. I am Cantona."

Am wirkungsvollsten waren aber immer noch die Ausschnitte mit den schönsten Szenen aus Cantonas Fußballerkarriere. Sein schönster Moment? "Es war kein Tor. es war ein Pass im Spiel gegen die Tottenham Hotspurs." Auf großer Leinwand denkt man da: Hätte Loach doch einfach eine Dokumentation über Cantona gedreht.

Das alternative Kritikerblog

Wie bewerten eigentlich internationale Kritiker die Filme bei den Filmfestspielen von Cannes?

Von Rüdiger Suchsland

In "Inglorious Basterds", dem neuen Film von Quentin Tarantino, auf den wir später hier an dieser Stelle noch zu sprechen kommen, taucht an entscheidender Stelle ein Filmkritiker auf. Er ist, wie könnte es anders sein, ein professioneller Killer. Außerdem Antifaschist und Agent im Geheimdienst seiner Majestät von England. Er ist Experte fürs Ufa-Kino, zugleich ist er aber (?) auch dumm genug, sich durch seinen Akzent zu verraten - bei Kritikern, das will Tarantino uns offenkundig sagen, ist immer alles möglich. Und ganz genau weiß man bei ihnen nie, woran man ist.

Weil Kritiker auf Filmfestivals wie dem von Cannes ja nie genug zu tun haben, und sich nach Ansicht Außenstehender sowieso vor allem auf Strandpartys und mit Weltstars im Mittelmeer oder in luxuriösen Hotelsuiten vergnügen, spielen sie auch Spiele. Eines davon ist ein ziemlich schmutziges Spiel, so schmutzig, dass es auch gut in einen Film von Tarantino passen würde: Im privaten Kritikerblog des Argentiniers Diego Lerer von der Tageszeitung "Clarin" vergeben sie Punkte. Das passiert zwar sowieso auch in den sogenannten "Dailys", den täglichen Festivalausgaben der angelsächsischen Brancheblätter "Variety", "Hollywood Reporter" und "Screen".

Der entscheidende Unterschied von Lerers Blog liegt nun aber nicht nur darin, dass im Gegensatz zu den genannten Branchenblättern hier die Filme aller Sektionen bewertet werden, nicht nur der Wettbewerb um die Palmen. Die Teilnehmer sind auch allesamt eher mainstreamfern, Cinephile, die aus Cannes berichten und dort versuchen, gerade das Seltene und Besondere zu finden, Regisseure die etwas riskieren, und in deren Filmen es gewissermaßen immer ums Ganze geht, und so etwas von einer möglichen Zukunft des Kinos zu ertasten. Mit dabei sind aus den Niederlanden Dana Linssen, Redakteurin des Filmkrant, Violeta Kovacsics von der spanischen Lumiere, Pamela Pienzobras von Mabuse aus Chile, Markus Keuschnigg von "Die Presse" in Wien und Cristina Nord von der Berliner taz.
Und normalerweise hassen gerade diese Leute das Reduzieren von Filmen, die ja gerade dann gut sind, wenn sie etwas Schillerndes und Uneindeutiges haben, auf notgedrungen einseitige Punktetabellen. Was man daraus lernt: Manchmal ist eben das Gegenteil von dem richtig, was sonst immer richtig ist. Und auch Kritiker, die sich schätzen und nahe fühlen sind sich untereinander oft nicht einig. Vielleicht ist das ja auch gerade ihre Qualität.

Mittwoch, 20. Mai 2009

"Macht, die nicht absolut ist, ist keine."

20.05.09

Ein russischer Zar bei den Filmfestspielen von Cannes

Von Rüdiger Suchsland

Düstere Blicke, lange Bärte, nicht ein Funken Humor - "Tsar" von Pavel Lungin ist genau so, wie man sich, in seinen schlimmsten Befürchtungen, einen russischen Kostüm-Film vorstellt. Man sieht eine Welt aus Schnee und Dreck, Menschen mit Pelzmützen und religiösen Visionen, arme Bauern und weise Priester. Und selbst der Mann an der Spitze des Staates friert und hat längst statt Zähnen schwarze Stümpfe im Mund.
Der Zar, um den es hier geht, ist "Iwan der Schreckliche" (1530-1584). Ein Thema mit Tradition, schließlich verfilmte schon Sergej Eisenstein das Leben dieses Zaren, seinerzeit im Auftrag Stalins, als Nationbuilding-Epos um die Sowjetunion propagandistisch in die Kontinuität einer tausendjährigen russischen Nationalgeschichte zu integrieren, und unausgesprochene Parallelen zu ziehen, zwischen dem Generalsekretär des ZK der KPdSU und dem selbsternannten "neuen Caesar", als Verteidiger des Reiches gegen ausländische Invasoren. Aber ansonsten gibt es nur wenige Bücher über diesen Zaren, als ob dieser Teil der russischen Geschichte bis heute ein Tabu sei.

Lungin erzählt Iwans Leben nun als die Geschichte eines religiösen Wahns und der Kirchenmacht. Über einen Herrscher, der Sendungsbewusstsein mit Angst verbindet, und der Überzeugung, die Apokalypse stehe unmittelbar bevor. Iwan sieht um sich herum nur Hölle - doch dann rettet die Kirche den Zar. "Wenn Du Gutes tust, ist Dein Wille auch der Wille Gottes" sagt ihm der Metropolit der orthodoxen Kirche.
"Die politische Kultur Russlands ist bis heute durch den Zwiespalt zwischen Fanatismus und Gottesfurcht dominiert." kommentiert der Regisseur. Formal wirkt Lungins Film zwar wie durchschnittliches 70er-Jahre-Fernsehen, inhaltlich ist es eine versteckte Verherrlichung der orthodoxen Kirche - "der Metropolit Philip opferte sein Leben, um andere zu retten. Er ist bis heute mit uns!" - und eine offene Allegorie auf das russische Reich des 21. Jahrhunderts, auf die Autokratenherrschaft des Vladimir Putin: "Macht wird in Russland immer als göttliches Recht aufgefasst", so Lungin, "Macht, die nicht absolut ist, ist keine. Die Person an der Spitze repräsentiert Gott auf Erden. Jeder, der ihn nicht anbetet, muss bestraft werden."

Lars von Triers "Antichrist" bei den Filmfestspielen von Cannes

20.05.09

Von Rüdiger Suchsland

Blut, Sex nahe an der Pornographie hatte er schon im Vorfeld angekündigt - ob das nun als Drohung gemeint war, oder als Versprechen, so sicher kann man sich bei diesem Mann eigentlich nie sein. Schon immer war er gut gewesen für Provokationen auf höchstem Niveau. So offen wie nie, ließ der Meister nun verlauten, würde er seine Seele entblößen, so tief wie nie könne man nun in die Abgründe seines Herzens blicken. Kurz - Lars von Trier hat einen neuen Film gemacht.

Wenn man allerdings "Antichrist", den neuesten Film des dänischen Autorenfilm-Stars und Kino-Enfant-Terrible ("Dancer in the Dark", "Dogville") gesehen hat, muss man zugeben: Er hat im Vorfeld zumindest nicht gelogen.

"Das ist ein kranker Mann." "Er ist bestimmt impotent." "Er braucht eine Therapie." So und so ähnlich waren viele Reaktionen, unmittelbar nach der Premiere. Schockiert, mit bleichen Gesichtern, manche grinsend, andere kopfschüttelnd, die meisten nachdenklich und ungewohnt schweigsam, taumelte die viel gewohnte internationale Kritikerschar aus dem Kino. Zuvor hatte sich lautes "Buh" und Beifallklatschen in etwa die Waage gehalten, und man hatte einen Film gesehen, wie man ihn auch auf diesem Filmfestival nicht oft zu sehen bekommt, der unmittelbar zu "dem" Aufreger des diesjährigen Wettbewerbs wurde, und von dem man sich noch in Jahren erzählen wird.

Es beginnt wunderschön: "Prolog". Händels berühmte Arie "Lascia ch'io pianga" aus der Oper "Rinaldo" ertönt: "Leave me to weep over my cruel fate And leave me to long for liberty. May sorrow break the bonds of my anguish, if only for pity's sake...". Das Bild ist Schwarzweiß, klar und kräftig, tausend Mal besser aussehend als in Coppola "Tetro" vor ein paar Tagen. In Zeitlupe sieht man Close-Ups von einem Paar beim Sex unter der Dusche, ein paar pornographische Nahaufnahmen inbegriffen, dazu eine Waschmaschine, die läuft, Spielzeug, ein Kinderzimmer... Draußen schneit es, Schnee kommt hinein durchs offene Fenster, auf dem Tisch stehen drei Figuren: "Pain", "Grief", "Dispair" heißen sie, ein Glas stüzt um, und Wasser läuft aus. Ein Kind verlässt sein Bett. Ganz sachte deutet sich die Katastrophe an. Denn das Kind stürzt durchs Fenster in den Schnee zu Tode und markiert den Sex für alle Zeiten als Sündenfall.
Ohne Frage: Lars von Trier macht das gut. Zugleich es ist ungemein prätentiös: Der Teddy, der in Zeitlupe in den Schnee fällt... Die bezaubernde Kirchenmusik dazu... Die Waschmaschine, die läuft.

Auf die Vorwäsche folgt sozusagen der Hauptwaschgang: In der strengen Struktur von vier Akten plus Epilog erzählt der Däne von jenem Paar, das sein Kind durch einen Unfall verloren hat, und das sich in einem Teufelskreis aus Trauer, Schuldvorwürfen und Wahn verstrickt. Das zumindest glaubt der Zuschauer vor der letzten halben Stunde. Denn da wandelt sich das zähe Beziehungsdrama, das die Selbstzerfleischung des Paares (intensiv gespielt von Charlotte Gainsbourg und Willem Dafoe) zeigt, von missglückter Therapie und einer Wanderung in einen symbolüberfrachteten Wald erzählt, in einen Horrorfilm mit Splatterelementen. Schon zuvor hatte man expliziten Sex gesehen, nun sieht man unter anderem einen Penis Blut ejakulieren, einen Bohrer das Bein des Mannes durchbohren, worauf durchs die Wunde ein Stahlstift getrieben und daran ein Mühlstein festgebunden wird. Ebenfalls ohne Narkose schneidet sich die Frau mit einer Schere die Klitoris ab - und dies sind nur die Grausamkeitshöhepunkte des Films. Der Hintergrund des Ganzen: Die Frau und Mutter stellt sich als Hexe heraus, der Tod des Kindes als Frucht religiösen Wahns - und wie im klassischen Horrorfilm kämpft der Mann, als er endlich erkannt hat, was Sache ist, ums Überleben...

Man sieht auch sprechende Füchse, erschlagene Vögel, ein Reh mit der Totgeburt aus dem Bauch heraushängend, eine Hütte im Wald, die "Eden" heißt, Goya-Bilder, anderes über Wahnsinn, Hexen und böse Priester, einen Dialog über den Gegensatz von Natur und Vernunft. Den Kern von alldem verrät bereits der Trailer zum Film. Aber auf die Frage, warum er diesen Film gemacht hat, bleibt von Trier vorerst die Antwort schuldig. So fragt man sich vorerst: Ist Lars von Trier ein Frauenfeind oder doch ein heimlicher Feminist? Ist er ein perverser Zyniker oder ein Genie? Oder einfach nur wahnsinnig?

Einmal mehr entpuppt sich Lars von Trier als Kino-Hexer, der sein Publikum verzaubert und dabei in Rage versetzt. Sein Film will genau das, was alle Kunst am Ende will: Das Ausloten menschlicher Extreme und die Konfrontation mit ihnen. Und die interessanteste Erfahrung nach der Premiere ist nun die Unsicherheit darüber, was man vom "Antichrist" zu halten hat. Viele hassen diesen Film und schätzen zugleich doch seine Qualität. Wenn Kunst das leistet, ist sie noch nicht verloren. Und Lars von Trier braucht keine Therapie; er hat sie längst. Seine Therapie ist das Kino.

Sonntag, 17. Mai 2009

Von Brando zu Brandauer

Francis Ford Coppolas Rückkehr zu den Filmfestspielen von Cannes

Von Rüdiger Suchsland

"Kill me, kill me, you are my son" - Ödipus lässt grüßen in Francis Ford Coppolas neuem Film, in dem ein US-Amerikaner von zwei leichtlebigen Argentinierinnen mit dem Spruch "Come with us, Bambi" ins Schaumbad gelockt wird, um entjungfert zu werden, und dann am Tag nach dem ersten Sex, also wie man so sagt, "zum Mann geworden", erfährt, wer sein Vater ist.

"Nichts stimmt, aber alles ist wahr" - direkt nach seinem mit autobiographischen Anspielungen prall gefüllten neuen Film kam Francis Ford Coppola auf die Bühne und stellte sich dem Publikum. Und man freute sich immerhin, dass Coppola dort zurück ist, wo er hingehört: Im Kino.
"Tetro", der soeben Premiere hatte, eröffnete die renommierte Quinzaine [http://www.quinzaine-realisateurs.com/], die anspruchsvollste Sektion neben dem Wettbewerb - ausgerechnet in dem gleichen altmodisch holzgetäfelten Kino, in dem seinerzeit "Apocalypse Now" 1980 seine Uraufführung erlebte und das Festival spaltete, bevor der Film dann am Ende die Goldene Palme gewann.

Motten fliegen in Scheinwerfer, es flackert, dann geht ein Matrose in weißer Uniform durch eine schwarze, nur laternenerhellte Nacht: "Tetro" beginnt gleich mit einer Fingerübung in der Poesie des Lichts - der Film ist bis auf wenige Stellen (Erinnerungsmaterialien der Figuren) in Schwarzweiß gedreht, allerdings nicht in den gleißenden Kontrasten des alten Film-Materials, sondern digital und daher immer etwas matt und stumpf wirkend. Mehr als an einen kühl-existentialistischen Film-Noir erinnerten die Bilder an Edgar Reitz' Fernsehproduktion "Heimat".

Auch sonst ist dies tatsächlich ein in vieler Hinsicht altmodisches Werk: Eine Geschichte, die zwar in Buenos Aires spielt, aber von der Stadt nur folkloristisches Klischees zeigt. Die Story benutzt entsprechend Argentinien nur als Kulisse - natürlich wird irgendwann auch noch nach Patagonien gefahren - und dreht sich um zwei amerikanische Brüder, die vor ihrem allzu starken Papa an den Rio de la Plata geflohen sind. Mehr und mehr entwickelt sich die Ausgangssituation dann zu einer archaischen Tragödie, gepflastert mit Zitaten aus der Kulturgeschichte der Romantik (neben Wagners "Rheingold" und diversen "Faust"-Varianten vor allem auf Offenbachs "Hoffmanns Erzählungen" und E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann"): Puppen, ein doppelter Bruderzwist und zwei Mütter kommen ins Spiel - im Zentrum steht ein psychologisches Portrait des "american male" an sich, gezeichnet in groben, aber bekannten Strichen als getrieben von Vatermordphantasien und Anerkennungssehnsucht, vom dauernden Ringen und der Konkurrenz um die gleiche Frau mit einem übermächtigen, bewundert-gehassten Vater, zudem gequält von Schuldgefühlen und der Abwesenheit der Mutter. Klaus Maria Brandauer spielt den Dirigenten-Übervater mehr mit Wiener-Grinse-Schmäh als mephistophelisch ...

Von Brando zu Brandauer - das ist auch künstlerisch ein weiter Weg. Wäre dies der Film eines x-beliebigen Unbekannten, würde man ihn wohl achselzuckend übergehen. Weil er von Coppola ist, schaut man gebannt hin, ist geneigt viel zu verzeihen - und am Ende doch enttäuscht. Coppolas Filme waren schon immer tiefstes 19. Jahrhundert. Aber dies ist eigentlich ein schlechter Film, der zwar immerhin persönlich ist - erst seine dritte Drehbucharbeit -, und Coppolas Lieblingsthemen, die Reise ist heart of darkness, die Familie und den amerikanischen Mann ein weiteres Mal bearbeitet. Vom Filmemacher, der Coppola einst und noch in "Bram Stokers Dracula" unbedingt war, ist hier aber nichts mehr zu sehen.

Buenos Aires ohne Buenos Aires, Coppola ohne Coppola - überzeugt von diesem überladenen, schwerblütigen Drama waren am Ende zwar nur eingefleischte Coppola-Fans. Zu den Paukenschlägen von Verdis Requiem wird dann der tote Vater beerdigt, ein anderer wurde dafür geboren. Letzter Satz: "It's gotta be ok, we are a family." Na dann.

Aus dem Leben eines japanischen Sexspielzeugs

Meerjungfrau in kalter Welt - Kore-edas romantische Fantasie "Air Doll" bei den Filmfestspielen von Cannes

Von Rüdiger Suchsland

Sie heißt Cindy, und hat 5970 Yen gekostet. Sie hält still beim Sex, widerspricht nicht, ist abwaschbar, und auch sonst pflegeleicht. Doch eines Tages erwacht die Sexpuppe Cindy zum Leben und von nun an wird alles kompliziert.

"Air Doll" heißt der Film, der jetzt bei den Filmfestspielen von Cannes in der Sektion "Un Certain Regard" Premiere hatte. In dem gewinnt der Japaner Hirokazu Kore-eda ("Nobody Knows", "Still Walking") dem im Prinzip überaus klassischen Thema der toten Puppe, die zum Leben erwacht (bzw. des Automatenmenschen) - besonders beliebt zu Zeiten der europäischen Romantik, bei Shelley, Kleist oder Hoffmann - neue Fassetten ab.

Es hat einen ganz eigentümlichen Zauber, wenn man in den ersten Minuten des Films verfolgt, wie sich die aufblasbare Puppe, zunächst noch steif und ruckartig, dann zunehmend elastisch in der Welt bewegt. Wodurch sie eigentlich belebt wird - durch den Sexualakt ihres Besitzers in der Nacht davor, durch sein Kompliment, sie sei " ki-de-ki", beautiful, oder durch die Reinigung danach, oder gar durch Gott, das lässt der Film offen. Später erst erwähnt sie, was passierte: "I found myself a heart, I was not supposed to have."

Stattdessen sieht man, was das erste ist, was sie tut: Sie kleidet sich an - auch Sexpuppen kennen offenbar Scham. Sie probiert verschiedene Kostüme an, mehr oder weniger alles Fetische der Phantasie ihres Besitzers, und landet dann bei einem veritablen Püppchendress. Erst später entwickelt sie auch Geschmack in Modefragen. Dann begleitet man sie bei der Entdeckung der Welt: Dem Nachahmen der Kinder, der naiven Annäherung an das so komplexe Leben unseres Alltags. Sie findet Arbeit in einer Videothek namens "Cinema Circus", was dem Film Gelegenheit zu ein paar Filmdiskursen en passant bietet, und dazu Plakate von "I Robot" und diversen Klassikern abspielungsreich ins Bild zu rücken. Auch Pornofilme hat der Laden, und Cindy damit Gelegenheit, in der Porno-Abteilung auf anderer Ebene ihren Ebenbildern zu begegnen. Auch ein paar Anspielungen auf Andersens Märchen von der "kleinen Meerjungfrau" gibt es, die so gerne ein Mensch sein möchte...

Gestellt wird dadurch natürlich die Frage nach der Menschlichkeit des Menschen, danach, was ihn eigentlich von einer Maschine trennt - davon abgesehen, dass er kein Ventil hat, an dem man die Luft heraus lassen kann. Bald schon ist Cindy einsam in der Menschenwelt. Die ist kalt und böse, nur die Maschinenwelt ist unschuldig, das Girl aber beißt in einen Apfel und sündigt - denn das ist Menschsein: "Because I found a heart, I told a lie."

All das hat eine gewisse Poesie, reicht aber nicht hin. Stattdessen plätschert der Film nach einer knappen Stunde zwischen wenigen guten Szenen über die Zeit, und nachdem der Puppe - darauf hat man seit Beginn gewartet - einmal die Luft ausgeht, passiert das auch dem Film. Der Rest ist, mehr und mehr, Kitschphantasie.

Natürlich soll das auch Kritik sein an der japanischen Gesellschaft, an einer Welt, die durch Demütigung und Ausnutzung strukturiert ist, und in der alle ein bisschen unglücklich sind, sich mit Substituten am Leben halten, wie Pornos oder Sexpuppen. Das Beste am Film bleibt die gloriose Bae Du-na ("Sympathy for Mr. Vengeance", "Tube", "The Host"). Kann es ein Zufall sein, dass der Regisseur hier die Rolle einer japanischen Sex-Puppe mit einer koreanischen Schauspielerin besetzt hat?

Das nächste große Ding

"3D", die Wunderwaffe aus Amerika soll das Kino retten - "Up" von Disney/Pixar eröffnet die Filmfestspiele von Cannes

Von Rüdiger Suchsland

"Spirit of Adventure" heißt das alte Luftschiff, das in diesem Film eine wichtige Rolle spielt. Und um den Geist des Abenteuers geht es tatsächlich, wenn auch weniger um seine Beschwörung, als um seine Austreibung.

Denn die Pixar/Disney-Produktion "Up", mit der am Mittwochabend die 62. Ausgabe der Filmfestspiele von Cannes eröffnet wurde, ist im Prinzip eine Anhäufung banalster Klischees, die in die Banalisierung des Abenteuers an sich mündet, in die Dekonstruktion der Idee des Helden(tums). Einmal mehr begegnet man einem jener typischen Träume der amerikanischen Provinz mit ihrer doppelten, widerspüchlichen Sehnsucht nach Aufbruch und Heimat zugleich, mit all ihrer Sentimentalität und einer Pfadfinder Moral, die perfekt ins Disney-Weltbild passt. Im Zentrum steht ein alter Mann, der zeitlebens vergeblich von großen Reisen und Erlebnissen träumt, aber ein trauriges ödes Leben lebt, bevor er das Abenteuer dann am Ende doch findet (oder es ihn) - aber dazu muss er gerade seine bisherigen Träume begraben, sein Jugendidol und sein Bild vom Heldentum verabschieden.

Interessant ist "Up" und die Wahl des Films zur Eröffnung des wichtigsten Filmfestivals der Welt aus einem ganz anderen Grund: Denn erstmals in der Geschichte des noblen Festivals eröffnete man mit einem Animationsfilm, und erstmals mit einem Film in "3 D"-Technik. Diesem Film den besonderen Status der Eröffnung eines so kunstorientierten Festivals wie Cannes zu geben, ist nicht nur eine Anerkennung der Animationskunst, als einer der vielen legitimen Dimensionen des Kinos. Es ist vor allem eine Verbeugung des Festivals vor den Marketinginteressen Hollywoods, und zugleich ein Zeichen, wie hart der Kampf hinter den glamourösen Festivalkulissen ausgetragen wird: Denn mitten in der Weltwirtschaftskrise, die längst auch die Filmbranche erfasst hat, soll "3 D" zur neuen Wunderwaffe aus Amerika werden, zum "Alleinstellungsmerkmal" des Kinos, und Mittel, um weiterhin den Vorsprung der Lichtspielsäle vor DVD, Internet-Filmdownload- und Videoportalen zu behaupten. Den Titel "Up" kann man also auch symbolisch verstehen, als Wegmarke, wo es hingehen soll mit der Filmindustrie.

Dabei ist "3 D" eigentlich ein alter Hut: Bereits Alfred Hitchcock drehte 1954 "Bei Anruf Mord" mit diesem Verfahren, und immer wieder hat man, nicht nur bei Disney, versucht, es zum Erfolg zu führen - aber das Publikum nahm die Technik nicht an - dafür bekamen viele Kopfweh. Jetzt aber versichern die amerikanischen Marketingleute, sei die Technik ausgereift. Man wird sehen. Zumindest über Kopfschmerzen klagte diesmal niemand. Trotzdem ist es schon eine sehr merkwürdige Erfahrung, in einem Kino gemeinsam mit rund 1500 weiteren Leuten zu sitzen, die allesamt eine große dunkle Sonnenbrille aufhaben. So zumindest sieht es aus, das ziemlich dicke Gestell aus rostrotem Plastik, den Premierengästen ausgehändigt wurde. Es war dann nicht übermäßig angenehm, knapp zwei Stunden lang eine Brille im Gesicht zu tragen, die überdies in der warmen Luft immer mal wieder beschlug. Und was macht man eigentlich als Brillenträger?

Und was soll an der Technik so spannend sein? Nahm man die Brille mal ab, sah das Bild im Großen, Ganzen gleich aus, manchmal nur etwas unschärfer. Nie aber hatte man Angst, in irgendwelche Abgründe zu fallen, nie rückte einem die dritte Dimension des Kinobildes aus der Leinwand heraus unangenehm nahe an den Körper. Und wer glaubt schon auch nur für Sekundenbruchteile an die Echtheit sprechender Disneyhunde mit Schlabberschnauze?

So bleibt der Eindruck einer Technik, die für fünf Minuten ganz interessant und etwas kurios ist, aber am Ende doch vor allem umständlich und - je länger der Film dauert - nervtötend. Vielleicht sollte man es einmalmit - allerdings weniger Disney-kompatiblen Horror- Katastrophen- oder Science-Fiction-Stoffen probieren? Jenseits des technischen Gimmicks, der zumindest Erlebniswert hatte und für Gesprächsstoff sorgte, war "Up" (Regie führte übrigens Pete Docter) ansonsten ein recht banaler Trickfilm. Ein Kinderquatsch, der spießige Idyllen zeichnet, und einmal mehr zur Eindruckssteigerung auf eine furchtbare Musiksoße nicht verzichten will.

Während also nun "3 D" zum dritten Mal in der Filmgeschichte als Sesam-öffne-Dich für die Zukunft des Kinos herhalten muss - aber bereits zwei Jahren soll es auch schon "3D-Fernsehen" geben -, geht es ab Donnerstag um dessen vierte Dimension, auf die man sich in Cannes noch immer am meisten verlässt: Die Kunst. In den 12 Tagen winkt dem besten Film die Goldene Palme.

Lachs statt Kaviar

Cannes und die Krise: Heute Abend eröffnet das wichtigste Filmfestival der Welt

Von Rüdiger Suchsland

Kaum zu glauben: In Cannes sind noch Zimmer frei. Wenn heute Abend an der Croisette, der palmenumsäumten legendären Uferpromenade des südfranzösischen Nobelbadeortes mit dem Animations-3D-Spektakel "Up" die 62. Ausgabe des wichtigsten Filmfestivals der Welt eröffnet wird, dann gibt es zwar wie gewohnt teuer gekleidete Filmstars, die in geliehen Houte-Cuture Kleidern im Dutzend über den Roten Teppich schreiten, dicht hinter sich die Bodyguards der Juweliere, die nicht etwa den geschmeidigen Starbody, sondern das Collier von Bulgari oder Swarowski bewachen, dann gibt es auch Fotografenmeuten und Fernsehkamera-Wälder, deren Bilder in alle Welt übertragen werden, und auch sonst Glamour pur. Trotzdem mischt sich Skepsis in die erwartungsvolle Festivalvorfreude, und schon vor Beginn der diesjährigen Ausgabe ist klar: Auch an der Cote d'Azur muss man in diesem Jahr ökonomisch kleinere Brötchen backen. Insbesondere die Hotelbesitzer und Partyveranstalter klagen bereits jetzt über finanzielle Einbußen. Dies trifft dabei nicht so sehr den absoluten Luxusbereich - die Nobelsuite im ersten Haus am Platz, dem Hotel "Martinez", für die der Gast pro Nacht 36.000 Euro berappen muss, ist schon längst für die gesamte Festivalperiode ausgebucht. Und auch eine bekannte Berliner Medienkanzlei residiert - standesgemäß (?) - im Hotel Carlton. Diese Krise trifft in diesem Fall also keine ganz Armen, und auch wenn manche in diesem Jahr vielleicht auf Kaviar und Champagner verzichten - für Lachs und Prosecco dürfte es immer noch reichen. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Von der augenblicklichen Weltwirtschaftskrise getroffen werden vielmehr besonders jene, die von den ganz normalen professionellen Festivalbesuchern leben: Einkäufern, Rechtehändlern, Filmproduzenten und Medienvertretern. Immerhin rund 10.000 solcher Fachbesucher kamen im letzten Jahr zum Festival, 2009 sind es nur etwa 8.000, jene noch nicht mitgerechnet, die diesmal weniger lang bleiben - eine heftige Einbuße von über 20 Prozent, die auch im Unterkunftsmarkt die Preise purzeln lässt. Während hier in den Vorjahren Zimmer im Innenstadtbereich für die gesamten 12 Festival-Tage (für einzelne Tage wird hier gar nicht vermietet) im Durchschnitt nur für 2000 Euro und mehr plus Mehrwertsteuer zu haben waren, wird Vergleichbares diesmal für 1500 -1800 Euro angeboten.

Nicht weniger schwer wiegen die Veränderungen für jene Veranstalter, die mit dem zweiwöchigen Starrausch normalerweise den Umsatz des Jahres machen: Denn auch an den Partys wird gespart. So lädt "German Films", die Dachorganisation der deutschen Kinobranche zur Vermarktung des deutschen Films im Ausland, nicht wie in den letzten Jahren zu einer opulenten Garten-Party in eine Villa mit angeschlossenem Park in den Bergen der Umgebung, sondern "nur" zu einem Empfang im Marktpavillon am Strand - und bereits auf der Einladung wird darauf hingewiesen, dass es diesmal nichts zu essen gebe. Trotzdem kostet allein schon die Miete eines Messestandes auf dem bedeutenden "Film-Markt" selbst in der kleinsten Kategorie mehrere tausend Euro - Reise, Unterkunft, Marketingkosten und sonstige Ausgaben noch nicht mitgerechnet. Wer solche Summen bezahlt, verspricht sich auch etwas davon. In Cannes ist man nicht zum Vergnügen, sondern um Geld zu verdienen. Für das normale Publikum sind die Vorführungen in Cannes, anders als die der Konkurrenzfestivals von Berlin und Venedig tabu. Erst später wird ein Teil der Filme in den regulären Kinos zu sehen sein. Dafür wird hier auch der Löwenanteil des Jahresgeschäfts gemacht. Wie dies diesmal laufen wird, das hängt nun vor allem von der Qualität des Programms ab.

Künstlerisch lässt sich Cannes 2009 auf dem Papier dagegen überaus gut an: So erwartet man etwa Penelope Cruz, zuletzt fast schon Stammgast in Cannes, mit blonder Perücke im neuen Film des Spaniers Pedro Almodovar. Mit viel Vorschußlorbeer bedacht wird auch Quentin Tarantino. 1994 holte er hier mit "Pulp Fiction" die Goldene Palme, nun präsentiert er "Inglorious Basterds", einen Film, der in den letzten Tagen des Dritten Reichs spielt, und von Amerikanern handelt, die als Nazis verkleidet, versuchen Hitler zu töten. Weitere bekannte Namen: Michael Haneke mit seinem ersten Kostümfilm und Lars von Trier mit "Antichrist".

Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren läuft diesmal ein einziger deutscher Film in Cannes, auch nicht in den Nebenreihen - die neuen Filme von Fatih Akin, Andreas Dresen und Matthias Glasner wurden vom Festival abgelehnt. Für manche in der Branche ist das ein Indiz verfehlter Förderpolitik, die große internationale Produktionen großzügig mit Geld ausstattet, während für kleine Autorenfilme nicht übrig bleibt. Aber vielleicht konnte Cannes nur aus dem Vollen schöpfen: Auch Jim Jarmusch's neuer Film wurde von Cannes abgelehnt, und sogar Francis Ford Coppola musste mit seinem neuen Film in die - allerdings renommierte - Nebenreihe "Quinzaine" ausweichen. Dafür sind 2009 besonders viele Filme aus Asien an der Croisette vertreten - allen voran (Süd-)Korea mit sechs Filmen.

Samstag, 16. Mai 2009

NEU NEU NEU

hier eröffnet die http://www.filmzentrale.com ihr weblog. in bälde hoffen wir hier von den filmfestspielen in cannes 2009 zu berichten. beste grüße, andreas thomas