Samstag, 5. September 2009

The Good, the Gay and the Ugly



…und das am frühen Morgen: Mysterien der Liebe von Patrice Chéreau - Venedig Blog, 2. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Szenen in einem Pariser U-Bahn-Waggon: Eine Frau bettelt die anderen Fahrgäste an: "1 Euro". Einem blickt sie ins Gesicht: "Arschloch". Eine andere Fremde bekommt unvermittelt Schläge ins Gesicht. Die Welt ist schlecht und ungerecht. Hässliche Menschen sind hässlich zu Menschen in diesen ersten Minuten von Patrice Chéreaus neuem Film, gleich am frühen Samstagmorgen im Wettbewerb von Venedig. Die Handkamera zeigt Erniedrigte und Beleidigte, die neuen Miserables von Paris, zeigt viel Leiden und Dreck, immer wieder. Bis zum Schluss sind der Dreck und das Leiden sehr schön in Szene gesetzt, manchmal richtig lackiert. "Ich weiß nicht, wie ich es schaffe" sagt ein Freund zum anderen. Und wir im Publikum sollen mitleiden. Das sind so die Filme, die am Ende Preise kriegen.

Eigentlich eine Menge Klischees für die wenigen Minuten, die der Film erst dauert: Die Armen, die im Dunkel, die wir nicht sehen, und im Licht des Beleuchters die Intellektuellen in einem Rive-Gauche-Café. Die klugen starken Frauen, und die schönen Männer, alle mit ihren gleich langen Dreitagebärten wie Poster aus einem Schwulenmagazin. Der einzige, der da rausragt ist der, der im Film wirklich schwul ist: Jean-Hugues Anglade spielt ihn als coolen Schweiger, wie aus einem Italo-Western. Es gibt auch noch einen sanften Schwarzen, den alle mögen, der mit seiner Sanftheit, seinen vielen humanen Dialogsätzen und seiner Zurückhaltung, auch nur rassistisches, philo-negroides Klischee ist.
Ansonsten sind die Wohnungen hier provisorisch, und das Leben im Zweifel etwas nachlässig und etwas schmutzig. Dauert stolpert einer, lässt einer Bierflaschen, Weingläser oder Milchtüten fallen, ohne danach aufzuwischen, dauernd geht irgendetwas zu Bruch. Nur Symbol ist das alles natürlich für die Unachtsamkeit, die die Menschen auch in ihrem Gefühlen an den Tag legen, ihrem Leben überhaupt.

Daniel, einer der schönen Dreitagebart-Männer ist unser Held. Er ist ein Narziss des Unglücklichseins, der sich aber auch alles so wahnsinnig zu Herzen nimmt. Er ist ein Arschloch, das sagt nicht nur die Bettlerin vom Anfang, das sagen auch die Leute die er so kennen lernt, und denen er gern den Abend vermiest, das sagen auch die Freunde von Sonia, seiner Freundin. Daniel verdient seinen Lebensunterhalt, indem er Wohnungen renoviert, schwarz vermutlich. Er gibt Freunden gern altkluge Ratschläge, er weiß immer, wo es lang geht, außer in seinem eigenen Leben. Was er "eigentlich" genau tut, weiß man nicht, wahrscheinlich ist er "eigentlich" ein Künstler.
Seit einiger Zeit wird Daniel von einem Stalker verfolgt. Das ist eben jener namenlose Fremde, den Anglade so eindrucksvoll cool-lakonisch spielt. Der steht immer mal wieder in Daniels Zimmer und erklärt ihm seine Liebe: Absolut, ohne Reserve, völlig verwundbar.

Das wirklich Interessante an "Persecution" ist die Liebesgeschichte zwischen Sonia und Daniel, ist ihr Verhältnis. Das ist unkonventionell, nicht nur, weil Daniel gewissermaßen die Frau in der Beziehung ist. Zumindest verhält er sich so, wie sich in Filmen meistens die Frauen verhalten: Eifersüchtig, sprunghaft, irrational. Und sie, so wie die Männer: Rational, beruhigend, ein workaholic, der sagt, sie brauche Zeit zum Alleinsein.

Es gibt in diesem Teil der Erzählung viele lohnende Aspekte, und kleine Beobachtungen, Bemerkungen. Etwa die Daniels zu einem Freund: "Ich denke, sie hat einen anderen. Sie ist zu ruhig. Leute, die etwas zu verbergen haben, sind so wie sie." Der Film handelt von den Missverständnissen, die sich in Beziehungen auftun, wenn alle von außen etwas sehen, was man in der Beziehung nicht sieht - oder umgekehrt. Und er fragt danach, wie wichtig es ist, dass einen einer "braucht". Daniels Problem mit Sonia: "She doesn't need me. She doesn't miss me." Und der Stalker braucht ihn. Aber das hilft hier nicht. So gern man Anglade zusieht, so sehr ist diese schwule Randgeschichte eine Schwäche dieses Films: Dass Sonias Konkurrent keine Frau ist, macht die Konkurrenz schwächer.

Jenseits der Liebesgeschichte aber, die nicht genug im Zentrum steht, bietet "Persecution" ein bisschen zuviel von allem. Und das ein bisschen zu uninteressant: Daniels Leben, seine Beziehung, sein Charakter, das Leiden überall, die ganze Stimmung. Auch die ist apokalyptisch auf ihre Art, und passt, nimmt man sie als Portrait westlicher Decadènce, insofern zu vielem, was hier an den ersten Tagen in Venedig bereits zu sehen war. Aber auch diese Diagnose, wenn sie denn eine ist, wird nicht auf den Punkt gebracht. Stattdessen setzt Cheréau immer noch einen mehr drauf: Daniel pflegt Alte in einem Heim. Er erzählt die Geschichte von seinem Vater, der das Leben nur ertrug, weil er heimlich gebetet hat. Und zwar zweimal am Tag: Eine Stunde morgens, eine Stunde abends. Geht Daniel auf der Straße, sieht er noch einen Krankenwagen, der gerade jemand abholt. Dann ein Motorradunfall... Sollen wir Mitleid haben? Sollen wir auch beten? Hat Cheréau womöglich Probleme mit dem eigenen Altern?

So übersteht man diesen Film nur mithilfe seiner vielen kleinen nützlichen Lebensweisheiten. Etwa diese: "Never drag in in a womens room, you know. You never know, what you will find." Und diese: "You can get tired of people and leave them. There are many ways of leaving." Oder man denkt angesichts der vielen provisorischen Wohnungen mal wieder an den guten alten Rilke: "Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr..."

Am Ende dieser mit höchst fragwürdigem Musikeinsatz untermalten Geschichte über das Sich-Verfehlen spielt Cheréau dann "Mysteries of Love" von David Lynch und Angelo Badalamenti. Das ist ja vielleicht ein ganz gutes Schlusswort.

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