Mittwoch, 20. Mai 2009

Lars von Triers "Antichrist" bei den Filmfestspielen von Cannes

20.05.09

Von Rüdiger Suchsland

Blut, Sex nahe an der Pornographie hatte er schon im Vorfeld angekündigt - ob das nun als Drohung gemeint war, oder als Versprechen, so sicher kann man sich bei diesem Mann eigentlich nie sein. Schon immer war er gut gewesen für Provokationen auf höchstem Niveau. So offen wie nie, ließ der Meister nun verlauten, würde er seine Seele entblößen, so tief wie nie könne man nun in die Abgründe seines Herzens blicken. Kurz - Lars von Trier hat einen neuen Film gemacht.

Wenn man allerdings "Antichrist", den neuesten Film des dänischen Autorenfilm-Stars und Kino-Enfant-Terrible ("Dancer in the Dark", "Dogville") gesehen hat, muss man zugeben: Er hat im Vorfeld zumindest nicht gelogen.

"Das ist ein kranker Mann." "Er ist bestimmt impotent." "Er braucht eine Therapie." So und so ähnlich waren viele Reaktionen, unmittelbar nach der Premiere. Schockiert, mit bleichen Gesichtern, manche grinsend, andere kopfschüttelnd, die meisten nachdenklich und ungewohnt schweigsam, taumelte die viel gewohnte internationale Kritikerschar aus dem Kino. Zuvor hatte sich lautes "Buh" und Beifallklatschen in etwa die Waage gehalten, und man hatte einen Film gesehen, wie man ihn auch auf diesem Filmfestival nicht oft zu sehen bekommt, der unmittelbar zu "dem" Aufreger des diesjährigen Wettbewerbs wurde, und von dem man sich noch in Jahren erzählen wird.

Es beginnt wunderschön: "Prolog". Händels berühmte Arie "Lascia ch'io pianga" aus der Oper "Rinaldo" ertönt: "Leave me to weep over my cruel fate And leave me to long for liberty. May sorrow break the bonds of my anguish, if only for pity's sake...". Das Bild ist Schwarzweiß, klar und kräftig, tausend Mal besser aussehend als in Coppola "Tetro" vor ein paar Tagen. In Zeitlupe sieht man Close-Ups von einem Paar beim Sex unter der Dusche, ein paar pornographische Nahaufnahmen inbegriffen, dazu eine Waschmaschine, die läuft, Spielzeug, ein Kinderzimmer... Draußen schneit es, Schnee kommt hinein durchs offene Fenster, auf dem Tisch stehen drei Figuren: "Pain", "Grief", "Dispair" heißen sie, ein Glas stüzt um, und Wasser läuft aus. Ein Kind verlässt sein Bett. Ganz sachte deutet sich die Katastrophe an. Denn das Kind stürzt durchs Fenster in den Schnee zu Tode und markiert den Sex für alle Zeiten als Sündenfall.
Ohne Frage: Lars von Trier macht das gut. Zugleich es ist ungemein prätentiös: Der Teddy, der in Zeitlupe in den Schnee fällt... Die bezaubernde Kirchenmusik dazu... Die Waschmaschine, die läuft.

Auf die Vorwäsche folgt sozusagen der Hauptwaschgang: In der strengen Struktur von vier Akten plus Epilog erzählt der Däne von jenem Paar, das sein Kind durch einen Unfall verloren hat, und das sich in einem Teufelskreis aus Trauer, Schuldvorwürfen und Wahn verstrickt. Das zumindest glaubt der Zuschauer vor der letzten halben Stunde. Denn da wandelt sich das zähe Beziehungsdrama, das die Selbstzerfleischung des Paares (intensiv gespielt von Charlotte Gainsbourg und Willem Dafoe) zeigt, von missglückter Therapie und einer Wanderung in einen symbolüberfrachteten Wald erzählt, in einen Horrorfilm mit Splatterelementen. Schon zuvor hatte man expliziten Sex gesehen, nun sieht man unter anderem einen Penis Blut ejakulieren, einen Bohrer das Bein des Mannes durchbohren, worauf durchs die Wunde ein Stahlstift getrieben und daran ein Mühlstein festgebunden wird. Ebenfalls ohne Narkose schneidet sich die Frau mit einer Schere die Klitoris ab - und dies sind nur die Grausamkeitshöhepunkte des Films. Der Hintergrund des Ganzen: Die Frau und Mutter stellt sich als Hexe heraus, der Tod des Kindes als Frucht religiösen Wahns - und wie im klassischen Horrorfilm kämpft der Mann, als er endlich erkannt hat, was Sache ist, ums Überleben...

Man sieht auch sprechende Füchse, erschlagene Vögel, ein Reh mit der Totgeburt aus dem Bauch heraushängend, eine Hütte im Wald, die "Eden" heißt, Goya-Bilder, anderes über Wahnsinn, Hexen und böse Priester, einen Dialog über den Gegensatz von Natur und Vernunft. Den Kern von alldem verrät bereits der Trailer zum Film. Aber auf die Frage, warum er diesen Film gemacht hat, bleibt von Trier vorerst die Antwort schuldig. So fragt man sich vorerst: Ist Lars von Trier ein Frauenfeind oder doch ein heimlicher Feminist? Ist er ein perverser Zyniker oder ein Genie? Oder einfach nur wahnsinnig?

Einmal mehr entpuppt sich Lars von Trier als Kino-Hexer, der sein Publikum verzaubert und dabei in Rage versetzt. Sein Film will genau das, was alle Kunst am Ende will: Das Ausloten menschlicher Extreme und die Konfrontation mit ihnen. Und die interessanteste Erfahrung nach der Premiere ist nun die Unsicherheit darüber, was man vom "Antichrist" zu halten hat. Viele hassen diesen Film und schätzen zugleich doch seine Qualität. Wenn Kunst das leistet, ist sie noch nicht verloren. Und Lars von Trier braucht keine Therapie; er hat sie längst. Seine Therapie ist das Kino.

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