Samstag, 22. Mai 2010

Heute sind wir alle Bayern!



Die unabhängigen Sektionen, erste Preisvermutungen, der Teufel und der vermutlich spannendste Film des Festivals - Cannes Blog, 8. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Den "Teufel" nennen ihn die katalanischen Freunde, und wenn man José Mourinho in Barcelona erlebt hat, versteht man, warum. Für die Nichteingeweihten: José Mourinho ist kein portugiesischer Regisseur und kein brasilianischer Filmstar, sondern der Trainer von Inter Mailand. Genau: Fußball. Heute Abend werden viele Akkreditierte nicht ins Kino gehen, sondern sich rechtzeitig einen guten Platz in einem Café oder einer Bar sichern, in der man das Championsleague-Finale überträgt. Und alle, bis auf die Italiener natürlich, werden für den FC Bayern sein. Die Katalanen und anderen Spanier (außer vielleicht ein paar fanatischen Real-Fans) sowieso. Aber auch jene Deutsche, die sonst jede Bayern-Niederlage bejubeln, sogar ein bekennender 1860-Fan (und BR-Redakteur) outete sich vorgestern entsprechend. Auch die Holländer, für die laut Jeroen vom "Filmkrant" Bayern sonst ein rotes Tuch ist. Ich werde das Spiel mit den Spaniern und Diego Lerer aus Argentinien sehen. Es wird der vermutlich spannendste Film des Festivals werden.

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Die unabhängigen Sektionen "Semaine de la Critique" und "Quinzaine des Réalisateurs" stehen auf einem A-Festival natürlich im Schatten des Wettbewerbs. Aber gerade in Jahren wie diesen, in denen die "Sélection officielle" doch alles in allem einige Wünsche offen lässt, können sie Trost spenden, und die eigentlichen Überraschungen und Entdeckungen parat halten. Der "Semaine", der zweitältesten Sektion in Cannes, gelingt dies auch vorzüglich: Erstmals seit Jahren laufen zumindest Wiederholungsvorstellungen am nächsten Morgen im "Salle Bunuel" im offiziellen Festivalpalais. Beschränkt auf erste und zweite Langfilme bietet man ein knappes, konzises Programm, das es gar nicht nötig hat, seine Jugendfrische zu betonen. Mit David Robert Michells Coming-of-Age-Story "The Myth of the American Sleepover", Janus Metz' Afghanistan-Drama "Armadillo", der am Ende den Preis der Reihe gewann und vor allem "Bedevilled" vom langjährigen Kim Ki-duk-Assistenten Jang Cheol-soo zeigte man drei weitere unbedingt sehenswerte, so vielfältige wie konsequente Debüts: Vor allem "Bedevilled", ein feministischer Horrorfilm über eine mysteriöse Insel, in der Frauen als Sklaven gehalten werden, nutzte die Semaine die Chance eines Festivalprogramms, inhaltlich wie formal die Extreme auszureizen.

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Genau dies war bisher das Markenzeichen der dreimal so großen "Quinzaine", in deren Schatten die "Semaine" immer stand. Das könnte sich ändern. Über sechs Jahre war es Leiter Olivier Père gelungen, regelmäßig ein extrem niveauvolles, abwechslungsreiches Programm zu bieten, das verlässlich zukünftige Festivalhits versammelte, strenges Kunstkino mit hochwertigem Genre verband, Namen wie Andres Wood, Eric Khoo, Christophe Honoré und Lissandro Alonso zu entdecken, regelmäßige Coups zu landen, indem man neue Filme von William Friedkin, Francis Ford Coppola, Bong Jon-hoo und Asia Argento zeigte, und mit alldem sogar dem Wettbewerb Konkurrenz zu machen. Als Père nun im Herbst nach Locarno wechselte, um dort Festivaldirektor zu werden, war es für den neuen Leiter Frédéric Boyer keine leichte Aufgabe. Doch Boyer hat schon im ersten Jahr die ohnehin bescheidenen Erwartungen noch unterboten und im Nu Pères mühsam aufgebautes Erbe verspielt.
Es stimmt schon verdächtig, wenn ein Chef als allererstes das Logo neu designen lässt, und den Trailer verändert - ein so symbolischer wie unnötiger Bruch mit einer herausragenden Tradition. Und die 22 Filme 2010 dürften als das schwächste "Quinzaine"-Programm seit über einer Dekade im Gedächtnis bleiben. Überraschungen bleiben völlig aus. Am schwersten wiegt aber, wie ähnlich sich alle Filme sind, wie einseitig narrativ und an Bildeinfällen desinteressiert, und wie deutlich in ihnen der gleiche depressive, dabei gelangweilte Grundton dominiert. Auffallend ist auch ein Faible für Ekelszenarien.

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Das alles ist keineswegs eine Einzelmeinung, vielen internationalen Kollegen geht es ähnlich, und es hat sich offenbar auch beim breiten Publikum herumgesprochen: Auch am ersten Samstag war die Abendvorstellung der Quinzaine nicht ausverkauft - ob das nur am speziellen Thema des Kannibalenfilms aus Mexico, lag? -, fast nie sah man Schlangen vor dem Kino.
Der mexikanische Kannibalismus-Film "Somos lo que hay" war noch einer der Besseren. "Ha'Meshotet" aus Israel erzählt vom Sohn orthodoxer Juden, bei dem die familiäre Repression erst zu Magenschmerzen führt, dann schließlich in die Vergewaltigung einer Betrunkenen mündet. Das mag in Israel eine brisante Handlung sein, blieb aber filmisch überaus eindimensional. Ähnliches gilt auch für Philip Kochs deutsches Gefängniskammerspiel "Picco", das bereits in Saarbrücken Premiere hatte, und bei dem der Dreck von den Ausstattern allzu hübsch in die Ecken geschmiert wurde.
Einzige positive Ausnahme: "Des filles en noire" von Jean Paul Civeyrac. Auch der fügt sich thematisch zwar ins Bild - es geht um zwei Schülerinnen, die nach Kleist-Lektüre akut selbstmordgefährdet sind -, findet aber eindringliche Bilder und eine Nähe zu seinen Figuren, die alle Widerstände überwinden und im Zuschauer unerwartete Gefühle erzeugen - also genau das, was man sucht, wenn man auf einem Festival täglich mindestens drei Filme ansieht. Ein Film der gerade deshalb gelingt, weil man hier sich auf nichts verlassen kann.

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Während im Wettbewerb noch bis zum Samstagabend letzte Beiträge Premiere feiern, beginnt man, die Favoriten zu sortieren. Vor allem drei Namen sind zu nennen: Der Brite Mike Leigh, dessen "Another Life" zumindest als Geschichte eines alternden Paars überzeugte: Ein überaus humaner Film, der manchen Leigh-Skeptikern überraschend gut gefiel, freilich auch nicht wenigen Beobachtern viel zu moralisierend war. Gegen Leigh spricht allerdings, dass er bereits einmal die Goldene Palme bekam, 1996 für "Secrets & Lies". Fast ein Unbekannter ist dagegen der Franzose Xavier Beauvois (geb. 1967), dessen "Of God and Men" von einem katholischen Kloster im Maghreb erzählt, wo die Mönche sich mit Muslimen arrangieren müssen - eine politische Parabel über die feinen Veränderungen und die innere Dynamik einer Männergesellschaft, und auch über religiöse Toleranz. Auch der Koreaner Lee Chang-dong bekam für seine zarte Familiengeschichte "Poetry" viel Beifall - aber asiatische Filme hatten in Cannes selten Glück. Gewisse Außenseiterchancen hat dafür sogar Altmeister Bertrand Tavernier, dem mit der Verfilmung des Barockromans "La Princesse de Montpensier" ein Überraschungscoup glückte: Man hatte einen routinierten Kostümschinken erwartet, und sah eine intensive, bewegende Liebesgeschichte aus der Zeit der Hugenottenkriege, ein Zehntel so teuer wie Jo Baiers missglückter "Henri 4", der die gleiche Zeit beschreibt, aber zehnmal so gut.
Unter Preisverdacht schließlich auch zwei Osteuropäer: Der Ukrainer Sergej Loznitsa überzeugte mit seiner Gangsterbourleske "My Joy" - die zwar deprimiert, aber postkommunistische Zustände sehr zwingend in Parabelform fasst. Auf andere Weise tut das auch der Ungar Kornél Mundruczó: "Tender Son" ist eine sehr moderne Fassung von Mary Shelleys romantischer Horrorstory "Frankenstein". Alles ist ungemein ausgedacht, und erntete bei einigen Kritikern sogar Pfiffe. Das ist vielleicht ungerecht. Aber unbedingt ist der Film mit dem zweiten Freitagabend, also dem vorletzten Tag des Wettbewerbs, sehr unglücklich programmiert. Auf den stillen, konzentrierten, aber auch Konzentration erfordernden und fraglos anstrengenden Film konnte sich nicht mehr jeder einlassen.
Zumindest Jury-Präsident Tim Burton, einem erklärten Fan des "Gothic-Horrors" und selbst Regisseur eines "Frankenstein"-Films, dürfte er aber nicht kalt lassen.

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