Donnerstag, 20. Mai 2010

Die Garbo der Regisseure

Jean-Luc Godard und sein "Film Socialisme" in Cannes - Cannes 2010-Blog 5. Folge

Von Rüdiger Suchsland

In 140 Zeichen etwas über Godards neuen Film zu sagen, sei unmöglich, schreiben zwei Kollegen einstimmig auf "Cargo". Das schreiben gerade die, die aus dem Kino gern noch smse mit ersten Eindrücken verschicken. Das kann man natürlich machen, wie so Vieles, aber ich gebe zu, dass mich diese neue Filmkritik-per-sms-Kultur doch um einiges mehr irritiert als wenn Kritiker einfach ihre Aufgabe erfüllen, zum Beispiel auf 140 Zeichen einen sinnvollen ersten Eindruck zu formulieren. Versuchen wir's also.
Davon abgesehen: Für wen sind eigentlich diese smse, außer für Freunde der Freunde? Und die, die sich gern für Freunde halten. Und für andere Kritiker, die natürlich solches Zeug immer lesen, schon weil man wissen will, was die Kollegen machen. Mit Godard haben diese Fragen insofern dann etwas zu tun, als dass es in seinem Film unter anderem um Kritik und ihre Funktion geht. Und um Unterhaltungsindustrie. Man versteht Godard sicher nicht falsch, auch wenn der Gedanke nicht sehr originell ist, wenn man unterstellt, dass für ihn solche Formen doch irgendwie eitlen Entertainments nichts mit Filmkritik zu tun haben.

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A propos sms: Kurz vor der Premiere war die Absage von Godard für Besuch und Pressekonferenz gekommen. Später im Gespräch sagt eine Freundin, Godard habe an seinen Weltvertrieb "Wild Bunch" eine sms geschrieben, mit der Bemerkung, dass er beim jetzigen Zustand der Welt auch in Cannes nicht über einen Roten Teppich laufen möchte. In der Zeitung am Morgen ist dagegen von einem Fax die Rede: "Je ne pourrai être votre obligé à Cannes. Avec le festival, j’irai jusqu’à la mort, mais je ne ferai pas un pas de plus. Amicalement. Jean-Luc Godard".

Wofür man die Kollegen von "Cargo" andererseits nicht genug loben kann, ist ihre geradezu enkelhafte Fürsorge um Großvater Godard. Es gibt dort außer besagten smsen auch ein Interview mit Alexander Horwath (das ich noch nicht hören konnte, weil das hier im Presseraum von Cannes nicht funktioniert) und den Hinweis auf ein sagenhaftes, auch sagenhaft langes Interview mit Godard, das Dani "le Rouge" Cohn-Bendit mit ihm geführt hat. Im Original auf Französisch hier und dann in englischer Übersetzung.

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Die Rückkehr von Godard an die Croisette war das große Ereignis zur Mitte des Festivals. Der Nouvelle Vague-Meister, der im Dezember 80 wird, ist weiterhin ein Star, abwesend wie die Garbo, präsent wie die Unsterblichen, Voltaire und Sartre.
Bei der ersten Vorstellung von "Film Socialisme" sitzt die Creme de la Creme des französischen Films im Kino: Zwei Reihen vor mir sehe ich Agnès Varda, direkt vor mir Claire Denis und Laurent Cantet. Der döst dann zwar später mal eine ganze Weile, bleibt aber drin - im Gegensatz zu manchem Kritikerkollegen, der einfach früher rausging - aber dazu später.
"Merveilleux" rief Claire Denis nach der Vorstellung vernehmlich wie spontan, "Fabelhaft", und dem kann man sich nur anschließen: Ein wunderbarer Film! Verstanden haben wir ihn trotzdem bestimmt auch nicht ganz, aber man kann es ja mal versuchen.

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Godards neuer Film will ganz bewusst ein Essay sein, keine irgendwie geartete Handlung erzählen. Der Film ist dicht und gedankenreich. Er spiegelt den Bewusstseinsstrom seines Regisseurs, und provoziert damit natürlich, dass auch der Zuschauer seinen eigenen Bewusstseinsstrom hat, jeder einen anderen natürlich, und so ringelt sich Bewusstseinsstrom um Bewusstseinsstrom um diesen Film. Auf diese Weise geht es voran.

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Tolstoi schrieb seinen Roman "Krieg und Frieden" 56 Jahre nach Napoleons Russlandfeldzug. Die Reflexion braucht Zeit. Aber jetzt wird es Zeit, langsam damit anzufangen, dem 20. Jahrhundert, besonders den Jahren 1933-1945 eine Form zu geben. Ich erkläre mir diesen Film als einen Versuch, eine Summe des 20. Jahrhunderts zu ziehen. Die notgedrungen skeptisch ausfallen muss.
Es geht darin um Orient und Okzident, um die Revolution und ihr Erbe, die Revolutionen, es geht um Sprache und Theorie und Literatur.

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Das wichtigste Stilelement ist die Montage. Godard montiert - und hier passt der mechanistische Ausdruck einmal - er montiert diverse vorgefundene Bilder - von alten Wochenschauen und Kinofilmen, über Fotos zu selbst gedrehten Dokumentstücken - mit inszenierten Szenen. Er montiert Tonspuren übereinander. Die Sprachen sind Französisch und Englisch, aber auch mal Deutsch, Russisch, Hebräisch, Arabisch. Übersetzungen gibt es keine, jedenfalls keine direkten. Daher wird kaum einer den Film komplett einfach verstehen können. Parallel zur Tonspur gibt es eine Untertitelspur, die in Englisch eben nicht übersetzt, sondern Wortkombinationen montiert, mit dem Ergebnis, dass dies eine eigene Ebene ergibt.

Jean-Luc Godards Englisch auf dieser Untertitelspur ist wie das der Indianer im Western:
"first produce
no say
show first what's possible"
Oder:
"think hard
what you fight for may obtain."

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Zweites Stilmittel ist die Vielstimmigkeit: Schauspieler sprechen im Bild oder aus dem Off die Sätze, die wohl oft als Ausdrucks Godards selbst gesehen werden dürfen, nicht als die einer Rolle. Es gibt aber auch Dialoge. Anscheinend sind viele der Sätze aus Büchern anderer Autoren entlehnt. Vielstimmig sind auch die Bilder in dem Sinn, dass sie formal verschiedene Qualität haben. Man kann sagen, dass dies ein Fall ist, wo das Digitale eher nicht weiter führt: Diverse Mätzchen in der Farbgestaltung der HD-Kamera stören eher, als dass sie Gewinn bringen.

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"Friends dissaprove acts but not my existence"
"Je reste, comme ca no thirst"
"Basterds are now sincere"
"Wenn Sie Scherze über Balzac machen, werde ich Sie töten."
"Ich will auch die Sonne angreifen, wenn sie mich eines Tages angreift."
So weit die Lage der Dinge, selon Godard.

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"Film Socialisme" ist eine geschichtsphilosophische Zeitreise von der Antike bis zur Gegenwart. Sie kreist um das kulturelle und politische Erbe Europas, verbindet viele Ebenen. "Quo Vadis Europa?" ist die Leitfrage, das antike Griechenland, das Ägypten der Pharaonen, Odessa, Barcelona und Neapel - also das Mittelmeer als der Geburtsort von Demokratie und Menschenrechten - bilden die räumlichen Eckpunkte dieser Reise. Es sind Orte, in denen sich christliche und andere Kulturen vermischen und treffen. "Ach Deutschland" Das fällt dreimal.

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Weiter: Der Film zerfällt in drei grobe Teile. Der erste, längste Teil zeigt eine Kreuzfahrt im Mittelmeer, auf einem Riesen-Ozeandampfer, der "Titanic" heißen könnte oder das Schiff sein, auf dem bei Manoel de Oliveras "Um filme falado" gereist wurde. Dieser Teil verbindet Tourismus mit Reflexionen über Imperien: Byzanz, Rom, Griechenland, Ägypten. Britische und deutsche Bomber im zweiten Weltkrieg, Kamikaze, Napoleon vor Moskau. Am Tag, als er die brennende Stadt verlässt, hat er das Dekret zur Gründung der Comedie Francaise erlassen. Und so weiter… Dialektisches Denken mit der Kamera, dass sich selbst erklärt, und versucht, der Empirie Thesen abzuringen
Der Regisseur bietet darüber hinaus Lesehinweise wie Balzacs "Verlorene Illusionen" und Texte von Andre Gide oder Nagib Mahfus.
Im zweiten Teil geht es um eine Kleinfamilie in der französischen Provinz. Die Kinder proben den Aufstand. Das Fernsehen ist dabei. "Wenn Sie Scherze über Balzac machen, werde ich Sie töten." sagt eine Tochter.
Der dritte, kürzeste Teil, verbindet dann Palästina und das Opfern der Söhne durch die Väter seit Abraham - "I see the fire, but I dont see the lamb." - "God will do the Holocaust" - mit der Sprachtheorie von Roman Jacobson, die eben im fraglichen Holocaust-Winter 1942/43 entwickelt wurde, man hört "Sag mir wo die Rosen sind.", dann kommt Eisensteins Treppe in Odessa, ein griechisches Theater und - "democracy + tragedy married. One child: civil war" Spanien: Barcelona, Barças Iniesta in Zeitlupe und eine Feier "Viva Don Quixote!!" Es fehlt also nichts Wesentliches in diesem Film. Aber was soll das jetzt alles?

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Wie gesagt: Eine Summe des 20. Jahrhunderts. Also Chaos. Enttäuschung. Sinnlosigkeit. Das scheitern von Allem, wovon das 19.Jahrhundert träumte, außer der Mondlandung. Zugleich die Rückkehr ins 19.Jahrhundert.

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Paranoia hat hier ihren Platz. Es geht viel um Gold, das spanische, das angeblich von den Kommunisten geklaut wurde. Das der Bank von Palästina. Das der Araber in den Transporten der Sklavenkarawanen. Es geht um die Organisation Gehlen, um die ODESSA, um neuen Faschismus, das Empire, um Tourismus und Freizeitparks, die auch Utopien sind.
Die Stimmung ist von Trauer und Abgesang geprägt. Und von Hoffnung: "20 Jahre alt sein, Recht haben, sehen statt lesen." Godard ist auch ein Filmemacher, der sich nie um klare Aussagen herumgedrückt hat: "Ideen trennen, Träume bringen zusammen" lautet eine davon, eine zweite: "Der Traum des Staates: Eins sein", der Traum der Menschen: "Zwei sein".

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Warum soll all das "nahezu nichts" bedeuten, wie wir im "Tagesspiegel" lesen? Der Autor vermisst die stringente These. Stimmt, die fehlt. Aber hat es die bei Godard, hat es sie bei irgendeinem guten Regisseur je gegeben? Da trifft es viel besser, was Anke Westphal schreibt: "Sage keiner, dass man Intellektuelle und Künstler wie diesen Regisseur sowieso nicht verstehen könne. Es wäre frech gelogen."
In einer süddeutschen Tageszeitung, lesen wir dann einen am nächsten Morgen etwas arg gönnerhaft von der "Lässigkeit" [sic!] Godards schwärmen, um ihm im nächsten Moment einen harten rechten Haken zu verpassen: "dessen Assoziationsketten man längst nicht mehr folgen kann… So berühmt Godard auch ist, seine Filme schaut ja jenseits eines Festivals wie Cannes auch keine Menschenseele mehr an. … Diesem Modell darf Cannes, darf das Weltkino natürlich nicht folgen, denn sonst würde es sich auflösen wie die funkelnden Eiswürfelberge, die hier am frühen Morgen am Strand liegen, ausgekippt aus den Champagnerkübeln der Nacht. Die Suche nach einem anderen Kino, das sich nicht verkrampft, sich nicht selbst betrügt und dennoch nicht vor völlig leeren Sälen spielt, geht also weiter." Etwas gewagte Behauptung, wenn man - siehe oben - nur den halben Film gesehen hat. Aber immerhin erweckt dieser Lässigkeitsverehrer nicht den Eindruck, er habe den Film verstanden.

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Todd McCarthy, der von der Variety entlassene langjährige Chefkritiker des US-Branchenmagazins, der jetzt auf "Indiewire" schreibt, meinte: "This is a film to which I had absolutely no reaction - it didn’t provoke, amuse, stimulate, intrigue, infuriate or challenge me. What we have here is failure to communicate." Eine verräterische Bemerkung. Denn wer scheitert hier? Godard oder McCarthy? Das wäre noch zu entscheiden? Vielleicht auch einfach die Sprache, und vielleicht es genau das, worum Godards Film kreist?

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"Film Socialisme" ist extrem anregend und amüsant. Solche Filme müsste man machen. Mehr machen. Dies ist genau das, wozu Kino da ist. Und es geht um Utopie. An der will Godard festhalten. "Ich will nicht sterben, bevor Europa glücklich ist." Hoffentlich geht dieser Wunsch in Erfüllung. "Godard for ever" hieß es in der "Liberation".

3 Kommentare:

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