Dienstag, 18. Mai 2010

Das Strahlen der Orientalen

Selbstmord-Tendenzen, Wahn und Lust, und eine Abu-Dhabi-Party - Cannes Blog, 4. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Bei der Abu Dhabi-Party findet man sich plötzlich neben Danny Huston wieder - da ist Cannes dann so wie vielleicht vor 40 Jahren. Huston ist nett, sieht trotz weißer Schuhe blendend aus, das hat nichts von dem schlaffen Löwenherz, den man in "Robin Hood" sah.
Das Großartige an dieser Party ist aber weder Huston noch das gute Essen, sondern die normalen arabischen Gäste, die auf dem Diwan ausgestreckt oder auf der Tanzfläche verteilt sind: Die Vielfalt der Gesichter, die immerzu erstaunliche, ansteckende Lebensfreude zeigen. Auf der Tanzfläche dann kommen sie ungemein in Fahrt, die Frauen mit langen Haaren, alle gut angezogen, tolle Gesichter, viele Henna-Hände… Was sich auch gut beobachten lässt: Was Frauen so tun, wenn sie wichtigen Männern begegnen, wie sie auf ihnen herumhängen, mit dem Knie arbeiten… Gute Show. Nur die Musik lässt zu wünschen übrig. Es läuft das, was immer läuft: Als ob es eine Filmfestivalparty-Cassette gibt, die um den Globus wandert.

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Die ersten Bilder zeigen einen langen Gang, vielleicht ein Hotel. Aber etwas Irreales, ein Element Übertreibung liegt von Anfang an über diesen etwas zu vielen Türen zu zu vielen Räumen, die sehr bunt aussehen. Man denkt kurz an Wong Kar-wei's "2046", vor allem aber an Kubricks "Shining".
"Chelsea Teens" heißt das Zimmer bald, das der junge Mann eröffnet. Und erst jetzt versteht man: Diese Bilder zeigen nichts Reales, sondern sie zeigen Virtualität. Sie sind, zwischen Pop und Klassizismus, Nostalgie und Einfallslosigkeit, Bilder für das Internet, genauer: Bilder für Chatrooms. Und "Chelsea Teens" heißt der Raum, um den es in diesem Horrorjugendfilm vor allem geht.

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Virtuos sind die ersten Minuten inszeniert, es läuft der zweite Satz der 9. Symphonie von Beethooven, die auch Klassikverächter kennen, aus Kubricks "A Clockwork Orange" nämlich. Zwischendurch sieht man mit Knetfiguren in Stop Motion eine Geschichte über die Schwarze Pest erzählt, vor allem aber erlebt man das Privatleben der fünf Mitglieder des Chats.
Ein ungewöhnlicher Film ist "Chatroom" von Hideo Nakata auf alle Fälle. Vorlage ist das gleichnamige Bühnenstück des Iren Enda Walsh. Wir haben gelernt, solche Filme zu lesen. Immer wieder findet der Regisseur ein paar tolle Bilder für das Internet. Knallig bunt zwar, aber dazwischen reiner Leerlauf. Eine Gruppe britischer Teenager trifft sich. Sie alle haben große Probleme. Schnell konzentriert sich alles auf William (Aaron Johnson), Gründer des Chatrooms, und Sohn einer Schriftstellerin. Er ist neidisch auf seinen Bruder, und vor allem sadistisch veranlagt: Sein Plan: Er will andere fragile Teenies in den Selbstmord treiben. Der Chatroom ist ein Suicide-Club.
Im Kern geht es also um desorientierte Teenager, die Dinge sagen wie: "Die glücklichste Zeit meines Lebens war, als mein Vater Prostata-Krebs bekam." Klassische Teenage-Angst also, und ein unglaublicher Kulturpessimismus, nun allerdings verbunden mit den Neuen Medien.
Der Film häuft alle Klischees zu Internet und Teenager an, die ihm einfallen. Darein mixt er dann Dialoge wie "What are you going to do?" - "Banish some demons". Fragen wie: "Whom do you hate?" mit der vorhersehbaren Antwort "Me" stehen im Raum. Ein wenig hübsch inszenierter, aber nicht grundsätzlich aufregender Ekel kommt dazu: Scheiße auf Autofenstern, Kotzen, ein Messer im Arm. Dann ein japanisches Selbstmordvideo.
Der Haupteinwand gegen die Triftigkeit des Gezeigten muss lauten: Wenn Chatrooms so persönlich wären, so emotional, wie der Film behautet, wären sie anders. Denn die virtuelle Welt ist hier nicht virtuell, das ist das Verlogene an "Chatroom". Eine körperlose Welt. Dafür gibt es auch nach diesem Film keine Bilder. So bleibt ein konventioneller Paranoia-Thriller mit sehr guter Musik.

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Kälte und Amoral schildert der Japaner Takeshi Kitano: "Outrage" ist ein düsterer Film. Er zeigt, wie aus einem banalen Streit ein Konflikt zweier Mafia-Gangs immer weiter eskaliert. Schnell wird dieser Gangsterkampf sinnlos, spielen weder Profit noch Ehre eine Rolle, sondern alles mutiert zum Abnutzungskrieg, der bis zum bittren Ende geführt wird. Nihilismus pur: Kitano radikalisiert die Selbstzerstörungstendenzen unserer Gegenwart und kritisiert sie dadurch.

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Jeder Film von Alejandro González Iñárritu, der 2001 mit "Amorres Perros in Cannes debütierte, war bisher schlechter als sein Vorgänger und "Biutiful" macht keine Ausnahme: Inzwischen liefert er die Leidensgeschichten schon übereinander gestapelt, sonst hätten sie in seinen Filmen keinen Platz: Javier Bardem verzückt zwar nicht nur den weiblichen Teil des Publikums. Er spielt einen katalanischen Geschäftsman, der mit allem handelt, was ihm unter die Finger kommt und dabei seine Seele längst verloren hat: Ein alles in allem träge inszeniertes, erzkatholisches Melodrama über Verbrechen, Sühne und Sterblichkeit, professionell inszeniert, stilistisch aber glattes Kunstgewerbe.

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Das große Ereignis der letzten Festivaltage war aber die Rückkehr von Jean-Luc Godard an die Croisette. Zwar hatte der Nouvelle Vague-Meister, der im Dezember 80 wird, seinen Besuch kurzfristig abgesagt, sein neuer Film entschädigte aber für alles: Im Stil eines Bewusstseinsstroms ist "Film Socialisme" eine geschichtsphilosophische Zeitreise von der Antike bis zur Gegenwart. Sie kreist um das kulturelle und politische Erbe Europas, verbindet viele vorgefundene Bilder - von alten Wochenschauen und Kinofilmen, wie Dokumentstücke - mit inszenierten Szenen. "Quo Vadis Europa?" ist die Leitfrage, das antike Griechenland, das Ägypten der Pharaonen, Odessa, Barcelona und Neapel - also das Mittelmeer als der Geburtsort von Demokratie und Menschenrechten - bilden die räumlichen Eckpunkte dieses Films, der ganz bewusst ein Essay sein will, keine Handlung erzählen. Der Regisseur bietet darüber hinaus Lesehinweise wie Balzacs "Verlorene Illusionen" und Texte von Andre Gide oder Nagib Mahfus.
Godard ist auch ein Filmemacher, der sich nie um klare Aussagen herumgedrückt hat: "Ideen trennen, Träume bringen zusammen" lautet eine davon, eine zweite: "Der Traum des Staates: Eins sein", der Traum der Menschen: "Zwei sein". Auf die Frage nach einem "Programm" findet man den Traum eines alten Mannes: "20 Jahre alt sein, recht haben, sehen statt lesen."
Ob sich diese Zukunft im Europa von heute findet? Die Filme in Cannes ermuntern zur Skepsis.

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