Samstag, 15. Mai 2010

Die lieben Kollegen und das Festival der niedrigen Erwartungen

"Der Blick auf die schönste Bucht der Welt"- Cannes 2010-Blog, 3. Folge


Von Rüdiger Suchsland

Es beginnt ein Festival der niedrigen Erwartungen. Cannes ist zwar, da muss man gar nicht drum herum reden, das wichtigste Filmfestival der Welt, und eines der schönsten überdies. Aber ein seltsames Startgefühl hängt wie Mehltau über den ersten Tagen. Neben dem latenten Krisengefühl liegt das wohl am Eindruck, den das Festival in diesem Jahr macht, wenn man nur vom Programm ausgeht: Im letzten Jahr sah man hier Haneke, Tarantino, von Trier, Coppola und viele derartige Legenden zu Lebzeiten mehr. "Das war so, als ob Marx, Engels, Lenin und Stalin auf einmal da waren." meint Jeroen, der Kollege vom recht anspruchsvollen niederländischen "Filmkrant" [http://www.filmkrant.nl/av/org/filmkran/home.html], ohne allerdings zu präzisieren, wen er denn für den Stalin des Kinos hält. Genau genommen sieht das Programm diesmal soviel unscheinbarer auch gar nicht aus.
Trotzdem: Der Gesamteindruck hat etwas Diffuses, zumindest an der Oberfläche. Am ersten Abend trank ich dann noch zwei, drei Bier mit den befreundeten Kollegen Josef Schnelle ("kultur heute" beim deutschlandfunk) [http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/] und erwähntem Jeroen, die meinen Eindruck teilen. Wir alle haben natürlich noch keinen Film gesehen, und wetten dann spontan nach "der Papierform", sprich unseren subjektiven Erwartungen nach gemeinsamer Kataloglektüre, wer in zwölf Tagen die Goldene Palme bekommt. Jeroen tippt auf Alejandro González Iñárritu, der sei einfach mal fällig. Jupp auf Apichatpong Weerasethakul. Ich glaube an beides nicht, da beides zu offensichtlich die Weltkino-Fraktion oder die Parteigänger des Hardcore-Kunstkinos befriedigt. Mein Tip: Kornél Mundruczo. Auch radikales Arthouse, aber der hat einen Frankenstein-Film gemacht, und das könnte dann Jury-Präsident Tim Burton gefallen.

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Später gibt noch Carlos von "kino kino" [http://www.br-online.de/bayerisches-fernsehen/kino-kino/index.xml] seinen Senf dazu: Auch er tippt auf Iñárritu und lästert dann über die Jury-Pressekonferenz am Mittag: Die hätten alle nichts zu sagen gehabt. "Ich weiß gar nicht, wie die sich die Filme angucken. Wie man etwas auf der Leinwand rezipiert, hängt ja vom emotionalen Status ab." Allein Kate Beckinsale habe offenbar "ja immerhin noch was erlebt." Auf meine Frage, ob Beckinsale denn wohl was zu sagen hätte, und eine interessante Interviewpartnerin wäre: "Von den Schießbudenfiguren war sie wahrscheinlich die hellste."
Niedrige Erwartungen können gut sein. Solange sie nicht eingelöst werden.

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Die lieben Kollegen. Da sind sie wieder. Der Redakteur, der eine neue Brille hat, und mich deshalb seit Jahren erstmals wieder freundlich grüßt. Die Redakteurin, die Nichtraucherin ist, aber immer - "nur in Cannes und nur bei Dir" - meine Zigaretten schnorrt, so viele, dass ich schon immer extra Packungen aus Deutschland mitnehme, denn PS gibt es hier nicht. Der smarte Schönling vom Hamburger Boulevard, der keine Filme guckt, aber pro Film vier Interviews mit "Stars" führt und entsprechenden tiefen Fragen. Damit er das überhaupt schafft, hat er seine Frau dabei, die unter seinem Namen auch Interviews führt - böse Kolleginnen lästern, dass sie eher dabei ist, damit er nicht fremdgeht. Die drei schnöseligen Nobelkritikerinnen, die fast immer gemeinsam unterwegs sind, und nur wenige, auserlesene männliche Gäste dulden. Und natürlich Mr. Cannes, der immer Thierry sagt, wenn er Fremaux meint, um seine Nähe zu demonstrieren. Die deutsche Filmkritik ist in klare Fraktionen und Freunderlsgrüppchen gespalten und über deren Grenzen wird kaum miteinander geredet, dafür wirft man sich Blicke zu, die wenig freundlich sind. Da wirken die Ausländer auf den ersten Blick - "von außen" halt - entspannter.

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Vielleicht zu entspannt. Im Kino heute alle 30 Sekunden lautes Stöhnen vom Hintermann. Schon erstaunlich, was die Leute im Kino für Geräusche von sich geben.

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Eröffnung der Sektion "Un Certain Regard", die in diesem Jahr besonders interessant wirkt. Thierry Fremaux begrüßt den portugiesischen Regisseur Manoel de Oliveira, der dieses Jahr 102 wird. Riesenapplaus im Saal. Bekommt Oliveira den Applaus dafür, dass er noch lebt, oder dass er so alt geworden ist? Oder ist das wirklich ein Applaus für den Filmemacher? Man zweifelt ein wenig, weil dies bestimmt keine Filme für die Mehrheit der Cannes-Besucher sind. Oliveira kommt dann auf die Bühne, zwar mit Stock, aber helfen lassen will er sich nicht. Er wirkt elastisch und fit, wie einer, der Anfang 60 ist. Dabei könnte er der Vater des kürzlich verstorbenen Werner Schroeter sein.

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Sein Film "O estranho caso de angelica" ist dann wie erwartet: Eine Geistergeschichte, nicht schlecht, aber arg hölzern inszeniert und in jeder Hinsicht demodée. Immerhin bleibe ich drin, während mich "Tournée" schon nach 15 Minuten wieder vertrieb: Die Regiearbeit des großartigen Mathieu Amalric ist dann genau so, wie man sich den Film eines Schauspielers vorstellt: Überdrehte "Spielfreude", überkandidelt und bunt, völlig sinnlos, eine Story über das Theaterleben, die zu nichts führt. Die Kollegen hatten mich schon vorgewarnt. Warum müssen Schauspieler auch immer Regie führen?

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Dafür, dass wir dann nicht zu sehr in künstlerische Höhen abhoben, sorgte ein Autor der BILD-Zeitung, der, ohne zu wissen, dass wir Deutsch verstehen, neben uns ins Telefon zunächst von "der Hassliebe zwischen Frankreich und England" schwadronierte "und Ridley Scott hat ja auch ein großes Haus in der Bretagne", und dann diktierte, was wirklich wichtig ist, in Cannes: "Nie gingen mehr Menschen ins Kino. Absatz. Filme sind die großen Mythen unserer Zeit, verzaubern uns in zwei Stunden. Ausrufezeichen. Der Blick auf die schönste Bucht der Welt. Wieviel Yachten der Milliardäre schwimmen unter dem glühenden Sonnenuntergang. Fragezeichen. Über 50. Ausrufezeichen. Letztes Jahr, Starrummel Klammer Inglourious Basterds mit Brad Pitt, Angelina Jolie, Til Schweiger - und Christoph Waltz, Klammer zu. Punkt Hat die Finanzkrise Cannes erreicht. Fragezeichen. Ja. Es gibt weniger Partys…"

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Gerade eben noch Hanns Georg Rodek von der "Welt" getroffen: Er läuft heute ausgerechnet mit Berlinale-Sweat-Shirt durchs Festival, und darauf einen "V For Vendetta"-Aufdruck. Ein Statement? Er verneint, und verweist auf seine Erkältung. Auf die Frage nach seinem Favoriten sagt er nicht nur, dass für "Apichatpong der Preis zu früh" kommt, sondern antwortet klipp und klar: "Keine Ahnung, wer gewinnt." Weil er damit auch nicht unglücklich wirkt, ist das vielleicht gar keine schlechte Haltung.

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